The Dirty Nil
“Fuck Art”
(CD, Dine Alone, 2021)
The Dirty Nil, die 2017 mit dem Juno Award als Breakthrough Group of the Year ausgezeichnet wurden, legen mit den 35 Minuten von “Fuck Art” ihr drittes Album vor. Auf diesem bleiben sich die Jungs aus dem kanadischen Ontario treu und verabreichen melodischen Punkrock alter Schule, wobei sich Sänger/Gitarrist Luke Bentham, Bassist Ross Miller und Drummer Kyle Fisher inhaltlich nicht groß mit politischen Themen auseinander setzen, sondern eher mit dem Alltag.
Die neue Scheibe enthält Lieder über zerrüttete Beziehungen, gestohlene Fahrräder, Idioten im Internet, die Angst vor dem 30. Geburtstag oder das Hören von Slayer im eigenen Dodge Caravan, um zu kompensieren, dass das Leben mittlerweile hauptsächlich darin besteht, die Tochter zum Fußballtraining zu kutschieren.
Auch wenn auf der Scheibe nichts direkt auf die Probleme der momentanen Pandemie hinweist, hat sie Spuren hinterlassen. “Es herrschte wirklich eine seltsame Atmosphäre”, erinnert sich Luke an die Aufnahmen mit dem in Seattle beheimateten Produzent John Goodmanson, der bereits für den Juno-Award-nominierten Vorgänger “Master Volume” hinter den Reglern saß – denn als diese in Toronto stattfanden, drohte auf Grund steigender Krankheitszahlen die Grenzschließung. “Wir haben einfach versucht, trotzdem Spaß zu haben und uns von all den schlechten Nachrichten da draußen abzuschirmen. Aber an dem Punkt, als wir gerade die Drums und den Bass im Kasten hatten, musste John zurück nach Seattle fliegen, weil er sonst in Kanada steckengeblieben wäre. Er hat gerade noch den allerletzten Flug erwischt. Danach kam der Studiotechniker Darren McGill zu mir und meinte: ‘Wir müssen das Studio in zwei Tagen dicht machen’. Also blieben mir nur zwei Tage, um alle Gitarrenspuren für das gesamte Album einzuspielen, was normalerweise ein oder zwei Wochen in Anspruch nimmt. Zwei Tage lang haben wir jeweils für 16 Stunden nur auf der Basis von Pizzataschen, Sodawasser und Kaffee existiert.”
Auf Distanz wurde dann am Album weitergearbeitet und Spuren wurden hin und her geschickt. Die Aufnahmen entwickelten sich schnell zur einzigen Ausflucht aus der apokalyptischen Sturmfront, die sich am Horizont zusammenbraute. “Das war die einzige Sache, über die wir noch Kontrolle besaßen, während die Menschheit machtlos erschien”, erinnert sich Bentham. “Es war eine Gelegenheit, in der wir auch mal ein paar Büchsen Bier öffnen und ein paar Tunes spielen konnten – und uns auf das fokussieren konnten, was für uns letztlich noch möglich war: Das größte Rock’n’Roll-Album aller Zeiten aufnehmen. Es war der verrückteste, irrste und wackeligste Prozess einer Albumproduktion, an dem ich je beteiligt war. Körperlich und geistig war ich ein totales Wrack. Als ich dann die ersten Mixe hörte, habe ich fast geweint, weil ich so glücklich darüber war.”
Mitte Juni 2020 schickten The Dirty Nil “Done With Drugs” als erste Single voraus. Zum gutgelaunten Ohrwurm wurde Bentham von seinem unmittelbar bevorstehenden 30. Geburtstag inspiriert und vor allem davon, wie viele Menschen auf Facebook solche Daten als Anlass nehmen, ausbgiebig zu verkünden, dass nun ein Start in eine neue, gesündere Lebensphase erfolgen würde – eben auch ohne Drogen, wenn diese es zulassen (“They’ve been good, they’ve been sweet, but now it’s time to get clean. I’m done with drugs – I hope they’re done with me”).
Bentham erklärt: “Viele der Gefühle, die ich im Vorfeld des Albums hatte – und die sich auch in einigen der Songs wiederfinden – drehten sich darum, dass ich genervt war von Leuten, die insbesondere online auf einem hohen Ross daherkamen und anderen befahlen, was sie zu tun hätten, um dann schreckliche Dinge zu anderen zu sagen, die ihnen nicht sofort zustimmten – du weißt schon, dieses ganze aufgeblasene Gehabe, das online entstanden ist. Ich habe die Anfangstage von Social Media miterlebt und ich glaube, dass es genereller Konsens ist, dass sich die sozialen Netzwerke im schlimmsten Zustand aller Zeiten befinden. Nie zuvor waren sie so toxisch, und das ist enorm deprimierend – jeden Tag erweisen sie sich als flammenzüngelnde Müllbrände. Und trotz allem hängen unsere Leben irgendwie ein Stück weit von ihnen ab.” Die Frustration über die Gesellschaft hört man immer wieder durch, bis hin zum abschließenden Trinklied “One More And The Bill”, was plant: “Gonna smash my TV, smash my phone, leave politics alone, go outside for a while.”
Im August folgte der Album-Opener “Doom Boy” als zweite Vorab-Single. Im Thrash-Metal-Riffs mit eingängigen Pop-Punk-Melodien verbindenden Song geht es um eine sich irgendwie falsch anfühlende Situation im Alltag des Frontmanns. “Let me be your doom boy, we could hold hands, listen to Slayer, in the back of Dodge Caravan” singt Luke und erklärt zum Stück: “‘Doom Boy’ gehört für mich zu den Favoriten aller Stücken, die wir je gemacht haben. Es ist eine Ode an gutes Benehmen und Thrash, und ja, es geht um den Dodge Caravan meiner Mutter.”
Im November veröffentlichten die Jungs dann schließlich “Blunt Force Concussion” als dritten und letzten Vorboten. Die Nummer kommt zwar energiegeladen und krachig daher, ist aber auch vom Power-Pop der 90er-Jahre inspiriert. Kein Wunder also, dass sich die Drei im dazugehörigen Videoclip als naturverbundene Post-Hippies inmitten einer blumigen und teils sogar psychedelischen Umgebung zeigen.
Auch die weiteren Tracks bereiten Freude. Mal geht es getragener zu wie bei der Cheap-Trick-Hommage “Elvis ’77”, beim zukünftige Beziehungsausrichtung auslotenden “Hang Yer Moon” oder beim entspannt angerichteten “Damage Control”, mal flotter und brachialer wie beim temporeichen Liebeslied “Ride Or Die” oder beim inneren Neid anprangernden “Hello Jealousy”. Mit der ebenso melodisch wie kraftvoll servierten Midtempo-Nummer “Possession” und dem sich in ärgerlicher Ruhe nicht nur an den Dieb des eigenen Fahrrads richtenden “To The Guy Who Stole My Bike” steuert eine Scheibe dem Ende zu, die Punkrock-Freunden Spaß bereiten dürfte, ohne dass hier allerdings irgend etwas Innovatives zu finden ist.
“Ich glaube, wir besitzen ein ziemlich ausgeprägtes Wissen und Verständnis für das, was wir machen – und wir fühlen uns auch wohl damit”, sagt Bentham: “Ich bin stolz darauf, was wir geleistet haben und darauf, wie wir weiterentwickelt haben und, soweit es möglich war, in moderne Klanglandschaften vorzudringen. Aber wir haben dafür nicht die Kernelemente unseres Sounds geopfert. Wir haben da etwas, und das haben wir nie verbogen, auch wenn wir manchmal Druck von außen bekommen haben, genau das zu tun.” Und er ergänzt: “Und hey, warum sollten wir diesen kompromisslosen Ethos nicht auf die Spitze treiben, in dem wir unserem bislang Radio-kompatibelsten Album einen Titel verpassen, der im Radio nicht ausgesprochen werden kann – und der selbst in seiner bereinigten Form (‘F*** Art’) immer noch als ‘fart’ daherkommt?”
thedirtynil.com
facebook.com/thedirtynil
Bewertung: 7 von 10 Punkten
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