Tori Amos
“Ocean To Ocean”
(CD, Decca Records, 2021)
Tori Amos blickt auf eine lange und erfolgreiche Karriere zurück, die zum Glück aber auch noch nicht abgeschlossen ist. Die 1963 in North Carolina gebotene Singer/Songwriterin beglückt uns seit Ende der 80er-Jahre mit ihrer Musik, wobei ihr Debüt unter dem Pseudonym Y Kant Tori Read 1988 bei Atlantic Records mit seiner Rockmusik nichts mit der lyrischen Schönheit und den Piano-geprägten Klängen ihres ganz eigenen Stils zu tun hatte, den sie seit Anfang der 90er-Jahre bei Universal Music dann veröffentlichen durfte.
1992 erschien mit “Little Earthquakes” ihr erstes Album unter dem Namen Tori Amos, dessen Erfolg dann vom Nachfolger “Under The Pink” noch übertroffen wurde, auch dank der UK-Top-5-Single “Cornflake Girl”. Das Album erreichte in Großbritannien Platz 1 der Charts, und der nächste Longplayer “Boys For Pele” dort und in den USA Rang 2. Ganz so hoch platziert blieb es zwar nicht, aber mit großartigen Songs und vor allem auch unglaublich ausdrucksstarken und musikalisch beeindruckenden Konzerten hatte sich Tori eine große Schar an Fans erarbeitet und geriet über die Jahre nie in Vergessenheit. Mit fast allen Alben kam sie bei uns in die Top 20, das winterliche, eigentlich sehr schöne “Midwinter Graces” (2009) und “Gold Dust” (2012) mal ausgenommen. Die letzten Alben “Unrepentant Geraldines” (2014) und “Native Invader” (2017) untermauerten aber, dass mit Frau Amos, die im August 58 Jahre alt wurde, weiter zu rechnen ist.
Mit “Ocean To Ocean” legt Tori Amos nun bereits ihr 16. Studio-Album vor, und nach mehr als 30 Jahren im Musikgeschäft muss sie sich nicht mehr beweisen, sondern eigentlich nur bestätigen, und das tut sie in beeindruckender Art und Weise. Elf Songs findet man auf den 48 Minuten der Scheibe, mit denen sich Tori Amos stilistisch treu bleibt – starke Kompositionen sind zu hören, die wieder ihre typische, wundervolle Atmosphäre verströmen, zwischen Schönheit und Melancholie, natürlich stets geprägt von Amos’ zauberhaftem Gesang zu einem Klanggewand, bei dem neben typischen Band-Instrumenten Piano wie immer eine tragende Rolle spielt und auch Orchester ergänzend eingesetzt wird.
Das Album hat sie im dritten britischen Lockdown in Cornwall geschrieben, das Cover zeigt sie dann auch auf den Klippen und in den Höhlen an der Südwestküste der Grafschaft. Dort war sie von den Menschen umgeben, die sie liebt – ihrem Ehemann Mark, ihrer erwachsenen Tochter Tash und deren Freund, und in einer persönlichen Krise sind entsprechend persönliche Songs entstanden. “Dies ist eine Platte über deine Verluste und wie du mit ihnen umgehst”, erklärt Tori. “Wenn man lange genug gelebt hat, kann man zum Glück erkennen, dass man sich nicht wie die Mutter fühlt, die man sein möchte, die Ehefrau, die man sein möchte, die Künstlerin, die man sein möchte. Mir wurde klar, dass man von dem Ort aus schreiben muss, an dem man sich befindet, um das zu ändern. Ich befand mich in meiner eigenen privaten Hölle, also sagte ich mir, dann schreibst du eben von dort aus – du hast es ja schon mal gemacht…”
“Wenn man beunruhigende Dinge normalerweise durch das Reisen verarbeitet, war das jetzt keine Option mehr”, fügt sie an. “Mein Schema war es, in ein Flugzeug zu springen und in die Staaten zu reisen. Ich wollte nur reisen, um neue Erfahrungen zu machen. Stattdessen musste ich mir einen Stuhl suchen und ‘reisen’, wie ich es mit fünf Jahren getan habe – in meinem Kopf.”
Die im September voraus geschickte, erste Single “Speaking With Trees” kommt mit einiger Energie daher und ist geprägt von Toris Piano, Matt Chamberlains Schlagzeug und spannender Percussion sowie Mark Hawleys stellenweise aufheulender Gitarre. Hier wie auch bei zwei weiteren Stücken ist übrigens Toris Tochter Tash im Hintergrundgesang zu hören.
Die zweite Vorab-Single “Spies” ist noch flotter und treibender angerichtet, wobei Jon Evans eine pulsierende Basslinie serviert, über der sich mit orchestralen Tönen bereichert ein vergleichsweise fröhlicher Pop-Song über Geheimagenten ausbreitet.
So unbeschwert klingen die meisten Stücke nicht. Der Titelsong “Ocean To Ocean” beschreibt die menschliche Ausbeutung der Meere, “Devil’s Bane” teuflische Belastungen im Leben, “Metal Water Wood” das Reinwaschen nach einem verzweifelten Jahr, und “29 Years” das Finden einer heilenden Lösung nach fast drei quälenden Dekaden.
“Ich habe mir vorgenommen, die Dinge so zu betrachten, dass ich zu mehr Selbststärkung (Empowerment) komme”, erklärt Tori. “Aber was ist eigentlich Stärke? Manchmal ist man noch nicht bereit, aufzustehen – man muss am Boden anfangen. Wir alle haben Momente erlebt, die uns zu Boden werfen können. Diese Platte begleitet dich da, wo du gerade bist, vor allem, wenn du gerade einen Verlust erlebst. Es fasziniert mich, wenn jemand eine Tragödie durchgemacht hat und wie er seine Trauer verarbeitet. Darin liegt das Gold. Wenn jemand tatsächlich an diesem Punkt ist und denkt: ‘Ich bin am Ende’, wie erreicht man diese Person? Es geht nicht um eine Pille oder einen doppelten Schuss Tequila. Es geht darum, gemeinsam im Dreck zu sitzen. Und dort im Dreck werde ich dich treffen.”
Natürlich gibt es aber auch wieder besinnliche, melancholischere Stücke, die intimer anmuten und noch weit mehr Intensität mit sich bringen. Das wundervolle “Swim To New York State” mutet hierbei mit seiner leicht jazzigen Note und tollen Streichern noch sehr warm an, während das nur auf sanftes Piano als Begleitung setzende “Flowers Burn To Gold” und das die Scheibe eröffnende “Addition Of Light Divided” weit mehr Traurigkeit in sich tragen, einen so aber umso mehr berühren.
Stark ist auch “How Glass Is Made”, das voller instrumentiert seichte und sogar rockige Momente bestens fusioniert. Und mit “Birthday Baby” schließt eine unter die Haut gehende Geburtstagsballade ein Album ab, mit dem Tori Amos mal wieder voll zu überzeugen und zu verzaubern weiß. Die Scheibe wird Fans sicher wieder gefallen, während Chart-Hits vermutlich ausbleiben werden, aber auf diese hat es Tori Amos offen hörbar schon lange nicht mehr abgesehen.
Im Frühjahr 2022 ist Tori Amos live bei uns zu erleben. Hier die Daten – Tickets gibt es z.B. hier bei Eventim (Partnerlink):
16. Februar 2022 Berlin, Tempodrom
20. Februar 2022 Frankfurt, Alte Oper
22. Februar 2022 München, Isarphilharmonie im Gasteig HP8
02. März 2022 Hamburg, Laeiszhalle
toriamos.com
facebook.com/toriamos
Bewertung: 9 von 10 Punkten
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