Vortex
Darsteller: Françoise Lebrun, Dario Argento, Alex Lutz, Kylian Dheret
Regie: Gaspar Noé
Dauer: 135 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: rapideyemovies.de/vortex
Facebook: facebook.com/rapideyemovies
Es wirkt, als hätte Gaspar Noé endlich das Alter erreicht, in dem er nicht mehr darauf setzt, mit seinen Filmen Skandale zu provozieren, sondern jetzt auch ohne das Überschreiten ästhetischer Grenzen den Nerv der Zuschauer trifft. Waren seine früheren Werke „Irreversibel“ (2002), „Love“ (2015) oder „Climax“ (2018) vor allem darauf ausgelegt, unbestritten wichtige Botschaften mittels expliziter Darstellung von wahlweise Gewalt, Sex oder Drogenexzessen, oder wie beim Letzteren sogar einer Kombination aus alledem zu transportieren, schlägt er in seinem neuen Werk „Vortex“ nun ruhigere Töne an und erreicht doch sein Ziel, uns zur Beschäftigung mit einem alle betreffenden Thema zu bringen.
Im Abwärtsstrudel, wie man das lateinische Vortex ja auch übersetzen kann, befindet sich hier schon seit geraumer Zeit das Zusammensein der unbenannten Eheleute Sie (Françoise Lebrun) und Er (Dario Argento), die mit inzwischen um die 80 ihr Leben in den Gängen ihrer zugestellten Wohnung eher nebeneinander her als gemeinsam gestalten. Man könnte meinen, dies läge ausschließlich an Ihr, die beim schier unendlichen, ziellosen Umherirren im kleinbürgerlichen Pariser Viertel ganz augenscheinlich nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne ist. Während Er mal wieder alle Hände voll zu tun hat, Sie zu finden und wieder wohlbehalten in den Schutz der eigenen vier Wände zurückzubringen. Doch auch Er hat definitiv seinen Anteil daran, hat mit einer Besserung Ihres Zustandes offensichtlich abgeschlossen und lebt als einst angesehener Filmkritiker in seiner eigenen Welt, die sich allein um die Arbeit an einem neuen Buch über die Träume im Kino dreht.
Es wäre eines Gaspar Noé ganz und gar unwürdig, würde er uns nicht auch dieses Mal wieder herausfordern und aus der Wohlfühlzone gängiger Konventionen reißen. Äußerst befremdlich nimmt sich da anfangs sein plötzlich zweigeteiltes Bild aus, bei dem er jeweils eine Seite exklusiv einem der beiden Ehepartner vorbehält, auch wenn beide wie zu Beginn nebeneinander im selben Bett liegen. Nichts könnte die geistige Trennung der beiden voneinander besser symbolisieren, während sie sich räumlich doch so nahe sind wie zu glücklichen Zeiten, die in einem kurzen gemeinsamen Moment auf ihrer Terrasse noch einmal aufblitzen. Selbst der gemeinsame Sohn Stéphane (Alex Lutz), ein gescheiterter Ex-Junkie, vermag mit seiner zur Hilfe ausgestreckten Hand nicht viel zu bewirken, scheitert er doch immer wieder an der Bereitschaft seines Vaters, sich vom Jahrzehnte lang so sehr genossenen Leben zu verabschieden, und kommt sowieso primär zu Besuch, um um finanzielle Unterstützung zu bitten.
Was Lebrun und Argento in einer seiner wenigen Schauspielrollen, der uns als Regisseur in seinen Giallo-Filmen so oft mit dem Tod konfrontierte, dem sein Er jetzt selbst direkt ins Auge blicken muss, in ihrem Zusammenspiel hier abliefern ist beeindruckend und dermaßen wirklichkeitsnah, dass es einen emotional ungemein mitnimmt. Hautnah nimmt man Seine wachsende Verzweiflung wahr, wenn Ihre fortschreitende Demenz Sie urplötzlich zum Aufräumen antreibt, dem auch das Manuskript Seines jüngeren Lebensinhalts zum Opfer fällt, oder Sie einfach gedankenlos die Gashähne aufdreht. Gleichzeitig entwickelt man enormes Mitleid mit Ihr, deren Bewusstseinsverlust Françoise Lebrun mit ihrem minimalistischen, fast ausdruckslosen Spiel erst ein plastisches Gesicht verleiht.
Das alles packt Noé in für ihn ungeahnt ruhige Einstellungen, in die er durch den Splitscreen noch dazu eine überaus spannende neue Ebene einzieht, die dem Betrachter jederzeit einen individuellen Perspektivwechsel ermöglicht. Dass die Figur des Sohnes Stéphane in die ohnehin ausreichend aufwühlende Demenz-Thematik auch noch ein gewaltiges Drogenproblem einbringt, war da eigentlich gar nicht nötig und lenkt vielleicht sogar ein bisschen vom Kernanliegen ab, das mit den Kinoreferenzen seiner auf ihr Leben zurückblickenden Hauptfigur reichlich autobiografischen Anstrich trägt. Mit „Vortex“ gelingt Noé ein skandalfreier, hoch emotionaler Blick auf eine fürchterliche Krankheit, dem man fast genauso hilflos folgt wie sein Protagonist, dem sein früheres Leben durch die Finger rinnt. Und der, wie er es selbst ausdrückt, „denjenigen gewidmet ist, deren Hirn vor ihrem Herzen zerfällt“.
Trailer:
Bewertung: 8 von 10 Punkten