Home Film “Mittagsstunde” – ein feinfühliges Familiendrama im vom Zeitenwandel geprägten Nordfriesland

“Mittagsstunde” – ein feinfühliges Familiendrama im vom Zeitenwandel geprägten Nordfriesland

Autor: Mick

"Mittagsstunde" Filmplakat (© Majestic)

Mittagsstunde

Darsteller: Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Gro Swantje Kohlhof
Regie: Lars Jessen
Dauer: 93 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: www.mittagsstunde-film.de
Facebook: facebook.com/mittagsstunde


Es wird nicht viel geredet im fiktiven nordfriesischen Brinkebüll. Das scheint auch nicht unbedingt notwendig, denn da packen die Leute einfach an, wenn es erforderlich ist. Diese Mentalität ist Regisseur Lars Jessen ganz und gar nicht fremd, der selbst in Nordfriesland aufgewachsen ist und schon in seinen vorherigen Werken „Am Tag als Bobby Ewing starb“ (2005) und „Dorfpunks“ (2009) tief in die Atmosphäre des ländlichen Nordens eintauchte. Damit ist er sicherlich auch nicht ganz fehl am Platze, wenn er sich jetzt den Roman „Mittagsstunde“ von Dörte Hansen vorgenommen hat und ihn uns als Film auf der großen Leinwand präsentiert.

Auch Ingwer (Charly Hübner) ist kein Mann der großen Worte, als er wieder in seinem Heimatdorf Brinkebüll irgendwo in der Pampa ankommt, um sich um seine „Ollen“ zu kümmern. Die kommen kaum noch alleine klar, also lässt er kurzerhand seine Dozententätigkeit an der Kieler Universität wie selbstverständlich ruhen und hilft, wo Hilfe benötigt wird. Kaum hat er sich im alten Gasthof von „Vadder“ Sönke (Peter Franke) und der schwer dementen „Mudder“ Ella (Hildegard Schmahl) eingerichtet, wird er auch schon von seiner Vergangenheit eingeholt, die nicht immer ganz den gängigen Normen entsprach. Und auch uns muss Regisseur Jessen in Rückblenden erstmal mit den etwas komplizierten Familienverhältnissen vertraut machen, springt zurück in die 60er Jahre, als mit den Vermessungsingenieuren plötzlich der Duft der weiten Welt Einzug hielt. Die waren mit dem Projekt der Flurbereinigung betraut, und einer von ihnen hinterließ zusätzlich zu den nahezu willkürlich zusammengelegten Agrarflächen auch noch ein Kind im Bauch von Ellas und Sönkes geistig behinderter Tochter Marret (Gro Swantje Kohlhof), die mit ihrer engelsgleichen Stimme regelmäßig die Zuhörer im Dorfkrug verzauberte. Da wird uns langsam klar, dass „Mudder“ und „Vadder“ eigentlich Ingwers Großeltern sind und sich seiner angenommen haben, als Marret eines Tages einfach spurlos verschwunden war.

"Mittagsstunde" Szenenbild (© Majestic / Christine Schroeder)

Kennen sich schon seit ihrer Kindheit in Brinkebüll: Heiko (Jan Georg Schütte, li) und Ingwer (Charly Hübner, re.)
(© Majestic / Christine Schroeder)

Einfühlsam nimmt uns Jessen mit in Ingwers Kindheit, als das Dorfleben noch intakt war und der Weg zwischen Schule, Tante-Emma-Laden und Gasthof noch gefahrlos zurückgelegt werden konnte. Jetzt gibt es keinen Laden mehr, und die alte Eiche fiel schon in den Siebzigern der zukunftsträchtigen Schnellstraße zum Opfer, über die nun der Güterverkehr gefährlich nahe am Gasthof vorbeibraust. Eine Entwicklung, die auch Ingwer irgendwann zu viel wurde, als er sich entschied, statt Sönkes Gasthof zu übernehmen lieber zum Studium in die Stadt zu gehen. Das nimmt ihm sein Großvater auch jetzt noch übel, lässt ihn seine Geringschätzung der Ausbildung bei jeder Gelegenheit spüren und macht ihm so sein ehrenwertes, von ernster Sorge geprägtes Engagement keinesfalls leichter.

Und doch fühlt sich Ingwer ihnen irgendwie verpflichtet, ist vielleicht auch auf der Suche nach seiner eigenen Identität, die irgendwann in der Stadt zwischen Studium und Job verlorengegangen ist und die er in der Kieler Literaten-WG nebst Dreiecksbeziehung nie wiedergefunden hat. Da ist seine Rückkehr nach Brinkebüll vor allem so etwas wie eine Ankunft in der Heimat, nur sieht die eben inzwischen ganz anders aus.

Charly Hübner füllt hier die Rolle des Ingwer trotz Zurückhaltung mit enormer Präsenz aus, als wäre sie ihm von Dörte Hansen auf den Leib geschrieben worden, fügt sich mit seinem minimalistischen Spiel und seiner Einsilbigkeit nahtlos in die Melancholie ein, die Lars Jessen mit fast jeder Einstellung überträgt. Damit trauert der ebenfalls fest im Norden verwurzelte Regisseur genauso wie die Romanautorin eindeutig den guten, alten Zeiten nach, als man sich noch unter der alten Eiche im Dorfkern traf und nicht auf einem Supermarktparkplatz am Ortsrand. Trotzdem ist „Mittagsstunde“ weniger Anklage als Stimmungskino, das uns mit seiner ungemein sympathischen Hauptfigur Ingwer seine Vergangenheit aufarbeiten lässt, die er irgendwann als „ganz schönes Kuddelmuddel“ bezeichnet.

Wie selbstverständlich nimmt einen das emotional fast von der ersten Sekunde an voll mit, lässt einen nicht nur über die eigene Familie reflektieren sondern anhand des nebenbei leichtfüßig angebrachten Abrisses der Dorfentwicklung unheimlich nachdenklich zurück. Manchmal ist weniger eben mehr.

Trailer:

Bewertung: 8 von 10 Punkten

 

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