Home Film “Eine Million Minuten” – die unkonventionelle Problembewältigung überzeugt

“Eine Million Minuten” – die unkonventionelle Problembewältigung überzeugt

Autor: Tobi

"Eine Million Minuten" Filmplakat (© Warner Bros. Entertainment GmbH)

Eine Million Minuten

Darsteller: Karoline Herfurth, Tom Schilling, Pola Friedrichs, Hassan Akkouch
Regie: Christopher Doll
Dauer: 125 Minuten
FSK: freigegeben ohne Altersbeschränkung
Website: www.warnerbros.de/de-de/filme/eine-million-minuten
Facebook: facebook.com/WarnerBrosDE
Kinostart: 1. Februar 2024


Im September 2023 erst verdeutlichte uns die gelungene Buchverfilmung “Wochenendrebellen” im Kino ebenso unterhaltsam wie zum Nachdenken anregend die Probleme Betroffener von Asperger-Autismus, indem die wahre Geschichte eines hierdurch speziell agierenden Jungen gezeigt wurde, mit dem sein Vater durch mehr als 50 deutsche Fußballstadien reist, um ihn vor allem zur besseren Kontrolle seiner Wutausbrüche zu bewegen. Ähnlich und doch auch wieder ganz anders sind die Schwierigkeiten angesiedelt, mit denen sich Familie Küper in “Eine Million Minuten” auf ganz besondere Art und Weise beschäftigt – basierend auf dem ebenfalls einen realen Fall schildernden, gleichnamigen Buch von Wolf Küper.

“Wie ich meiner Tochter einen Wunsch erfüllte und wir das Glück fanden” lautete der Untertitel der 2016 erschienenen, autobiografischen Fallschilderung – und der trifft es gut. Wie Glück fühlte sich das Familienleben der Küpers nämlich schon länger nicht mehr an, wo der Film einsteigt. Während Vater Wolf (Tom Schilling) als Spezialist für Biodiversität in Diensten der Vereinten Nationen jobtechnisch nämlich zwar erfolgreich, aber inklusive Dienstreisen gut eingespannt ist und sich daher immer weniger um seine fünfjährige Tochter Nina (Pola Friedrichs) und deren einjährigen Bruder Simon (Piet Levi Busch) kümmern kann, fühlt sich Mutter Vera (Karoline Herfurth) überlastet. Ja, ihre gemeinsame Wohnung in Berlin ist schick und Geld kommt rein, aber neben dem Haushalt kommt ihr Job als Bauingenieurin mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit viel zu kurz, auch weil Nina bei allem extra langsam zu machen scheint und auf Ansporn trotzig bis blockierend reagiert.

Vera fühlt sich immer verzweifelter sowie kraftloser, und die eigentlich mal so wunderbar funktionierende Ehe kriselt mächtig, wie sich bei Wolfs Rückkehr von einem mehrtägigen Trip zu einer Konferenz in New York deutlich offenbart. Gerade als seine Vorgesetzte Claudia Hergenrath (Anneke Kim Sarnau), für die er auch Reden schreibt, ihm klar macht, dass sie ihn noch mehr einzubinden plant, diagnostiziert der nicht als erster Arzt konsultierte Dr. Finkelbach (Godehard Giese) Nina eine Entwicklungsverzögerung, einherkommend mit einer Bewegungs- und Koordinationsstörung. Und da es sich hierbei weniger um eine Krankheit als um Symptome handele, gäbe es keine konkret zu verordnende, an anderen erprüfte Behandlung. Also entlässt er sie mit dem Ratschlag, so viel gemeinsame Zeit wie möglich mit dem Mädchen zu verbringen, um ihre Entwicklung zu fördern, was bei anderen erfahrungsgemäß schon gut geholfen habe, auch wenn man nicht versprechen könne, dass Besserung einträte.

Als Nina, die gerade erst während einer Autofahrt die Zahl “Million” aufgeschnappt hatte, dann kurz darauf beim traditionell abendlichen Vorlesen im Bett dem Papa sagt, dass sie sich eine Million Minuten für ganz schöne Sachen wünschen würde, findet Wolf dies erstmal nur ganz niedlich. Dann aber beginnt er angesichts der erhaltenen Diagnose und seiner auf der Kippe stehenden Ehe doch sehr rasch, mal durchzurechnen: Rund 694 Tage wären dies, also knapp zwei Jahre. Im Wissen heutiger Möglichkeiten, sich per Telefon und Videokonferenz von überall, wo eine Internetverbindung aufgebaut werden kann, zuzuschalten, bittet er seine Chefin, in Sachen persönlicher Begleitungen auf Dienstreisen und direkter Zusammenarbeit auf seinen besten Kollegen und Freund Ben (Hassan Akkouch) zu setzen und ihn hingegen für die zwei Jahre “remote”, also von woanders, arbeiten zu lassen. Hierbei denkt er allerdings nicht an das typische Homeoffice, denn zu richtig schöner Zeit gehört auch das Entdecken der Welt. Nach Absprache mit der total verdutzten, aber positiv überrascht dann gerne einwilligenden Vera bringt Wolf einen Globus mit nach Hause und lässt Nina wählen, wo es hingehen soll.

Als erstes Ziel wird Thailand ausgemacht, und dann soll es weiter nach Island gehen, wo Vera schon immer mal gerne hinwollte und es ja zudem noch Elfen geben soll. Auch wenn Wolfs Vater Werner (Joachim Król) mit seinem viel zu traditionellen Verständnis von angemessenem Karrierestreben und familiärer Rollenverteilung wenig angetan ist und sich auch nicht von seiner den Mut der Familie bewundernden Frau Renate (Ulrike Kriener) bekehren lässt, buchen die Küpers die Flüge nach Asien, verkaufen all ihr Hab und Gut – und auf geht es in ein Abenteuer, das wie erhofft viel Schönes bescheren soll, aber auch nicht ohne Schwierigkeiten abläuft.

"Eine Million Minuten" Szenenbild (© Warner Bros. Entertainment GmbH)

(© Warner Bros. Entertainment GmbH)

“Eine Million Minuten” weiß gut zu unterhalten, wenn der Film uns zwar problembehaftet abholt, dann aber ausgiebig zeigt, wie die auf Ninas Einschlaf-Wunsch basierende, äußerst unkonventionelle Auszeit in der Ferne Heilung bringt, und hiermit ist nicht nur gemeint, dass es der Kleinen offensichtlich gut geht und sie deutliche Fortschritte in ihrer neuen Umgebung macht, sei es nun das Erlernen von Schwimmen im Ozean und Radfahren auf Island oder sei es der Ausdruck von weit mehr Zufriedenheit mit dem Dasein. Die Monate im warmen, schönen Thailand lassen auch die Liebe von Vera und Wolf wieder voll aufflammen und die beiden entdecken mit neuen Gegebenheiten auch sich selbst als Paar wieder, ihre Stärken und das lange verloren gegangene Kribbeln in der Beziehung.

Neben der zentralen Geschichte der Familie bietet der Streifen dank seiner Drehorte in Thailand und Island auch wundervolle Landschaftsbilder und zeigt herzerwärmende Momente, wenn Wolf, der den Spaß am Zeitinvestieren in die Liebsten wiederentdeckt hat, Nina auf einem großen Palmblatt über den Strand zieht, ihr zum motorischen Tretanreiz ein Fahrrad mit bunten Lichterketten baut, die sie nun mit etwas Fleiß zum Leuchten bringen kann, oder ihnen in Island der im Rollstuhl sitzende Sympath Bassi mit klugem Kopf und viel Empathie den richtigen Weg weist. Hierfür wurden die wahren Erlebnisse der Küpers auch etwas verändert, ging es in Wirklichkeit nach einigen Monaten in Thailand – wo übrigens auf der Insel Ko Phra Tong tatsächlich im selben Häuschen gedreht wurde, in dem damals die echten Wolf und Vera mit den Kindern gewohnt hatten – doch weiter nach Australien und dann nach Neuseeland. Da hier Dreharbeiten allerdings aus verschiedenen Gründen nicht realisierbar waren und auch, um einen noch klareren Kontrast zwischen den Orten zu bieten, bei denen man nebenbei noch ein bisschen über die jeweiligen Kulturen und Einwohner vermittelt bekommt, entschied man sich für Island als filmisches Zweitziel.

Dass hier am Fjord dann mit dem charmanten Handwerker Einar, der als Nachbar sehr offen für die Neuankömmlinge ist, sie gerne auch in die kleine Gesellschaft integrieren möchte und auf den der in Thailand weit ausgeglichener wirkende Wolf hierdurch eifersüchtig wird, sowie besagtem Bassi, dessen Bruder zufälligerweise Ninas Traumberuf bei der Feuerwehr inne hat, noch weitere Charaktere zur Ergänzung hinzu erfunden wurden und auch Vera ihre beruflichen Fähigkeiten bei einem Hausbauprojekt wieder gewinnbringend einsetzen kann, das wäre vielleicht alles gar nicht notwendig gewesen, passt aber doch gut zur erzählten Story. Und ganz nebenbei gab es so auch die Gelegenheit, den isländischen Ex-Fußballer und Frauenschwarm Rúrik Gíslason zu besetzen, der im deutschen Fernsehen ja seit einigen Jahren recht präsent ist, u.a. als sich gut bewegender “Let’s Dance”-Gewinner und unter der “The Masked Singer”-Verkleidung als Gorilla auch stimmlich gut abliefernder Halbfinalist.

Mit “Eine Million Minuten” legt Christopher Doll nach mehr als 20 Jahren in der Filmbranche sein Regiedebüt vor, wobei er als Mitinhaber der 2014 mit Lothar Hellinger gegründeten Hellinger/Doll Filmproduktion als Produzent bereits auf fünf Zusammenarbeiten mit Karoline Herfurth – die wie wir seit Mitte 2023 wissen ja bereits länger seine Ehefrau ist – zurück blicken kann, und zwar für alle ihre eigenen Regiearbeiten “SMS für dich” (2016), “Sweethearts” (2019), “Wunderschön” (2022) und “Einfach mal was Schönes” (2022), in denen sie ja auch jeweils die Hauptrolle spielte, sowie für “Traumfrauen” (2015). Zusammen mit seinen vier Drehbuch-MitautorInnen hat Doll noch etwas mehr an der Realität geschraubt, war doch Simon eigentlich erst einige Monate alt beim Aufbruch und hatte Wolf doch seinen Job gekündigt, anstatt auf Arbeit über Entfernungen zu setzen – und auch einen gezeigten tragischen Verlust gab es in Wirklichkeit nicht. Der Kern der gezeigten Geschichte hingegen stimmt, und dies ist das Wichtigste: Durch die gemeinsame Zeit und die Erlebnisse außerhalb des typischen Systems, in dem Ninas Defizite weit mehr zum Tragen und zur Sprache gekommen wären, entwickelte diese sich prächtig und ist heute eine 18-Jährige, der es gut geht.

Auch dem Ehepaar Küper als solches hat die Auszeit wie erwähnt sehr gut getan, Vera und Wolf haben sich hier wieder neu kennen und schätzen gelernt, und zusammen mit den beiden Kindern ging es später dann sogar noch einmal in die Ferne, diesmal sogar für ganze sechs Jahre ins südafrikanische Kapstadt, wo Wolf wie schon nach der ersten Rückkehr nach Deutschland als Lehrer arbeitete aus dem sie erst 2022 heimgekehrt sind. Die Chemie zwischen Vera und Wolf scheint also zu stimmen, ebenso wie die zwischen Karoline Herfurth und Tom Schilling, die sie überzeugend spielen und somit dafür mitverantwortlich sind, dass der Film sich bestens anschauen lässt. Auch die junge, erfrischend spielende Pola Friedrichs weiß als Nina zu gefallen. Neben Rúrik Gíslason, der als ruhiger, hilfsbereiter und auch sozialen Kontakt anbietender Einar ordentlich spielt, sind alle Nebenrollen gut besetzt, ob mit Hassan Akkouch als Wolfs engstem Arbeitskumpel Ben, Anneke Kim Sarnau als seine verständnisvolle, aber zielstrebige Chefin, Godehard Giese als diagnostizierendem Arzt oder Ulrike Kriener als Wolfs liebevolle Mutter. Und Joachim Król wirkt in der Rolle als sein Vater auch mal wieder optimal, der Angst um die Karriere des Sohnemanns hat, aber als Ninas Großvater dann doch auch zu verstehen beginnt, wie wichtig die sehr spontan entschiedene Auszeit für die Kleine ist.

Der von Christopher Doll gut inszenierte und auch von ihm zusammen mit Lothar Hellinger produzierte “Eine Million Minuten” bietet unterhaltsam eine schöne Geschichte darüber, was im Leben eigentlich am Wichtigsten ist und wie man selbst seines Glückes Schmied sein kann. Das Ganze wurde gut adaptiert und bringt einen durchaus auch zum Nachdenken, an welchen Stellschrauben man selbst drehen könnte oder sollte, es muss ja nicht immer ein kompletter Ausstieg sein und man sollte hierfür am besten auch nicht erst ein Kind mit Problemen benötigen.

Trailer:

Bewertung: 8 von 10 Punkten

 

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