All Of Us Strangers
Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell, Claire Foy
Regie: Andrew Haigh
Dauer: 105 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: www.searchlightpictures.com/all-of-us-strangers
Facebook: facebook.com/20thCenturyStudiosDE
Kinostart: 8. Februar 2024
Mit Remakes ist das ja immer so eine Sache – einige funktionieren gut, andere kaum, und nicht wenige sind sogar komplett überflüssig. Mit “All Of Us Strangers” bietet der britische Regisseur Andrew Haigh nun zwar auch nicht die erste filmische Umsetzung des 1987 erschienenen Romans “Ijintachi to no natsu” des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada (in Deutsch weit später als “Sommer mit Fremden” veröffentlicht, im Englischen als “Strangers”), die heimische, damals in Japan auch erfolgreiche Adaption von Nobuhiko Obayashi (internationaler Titel war “The Discarnates”) ist aber zum einen schon 35 Jahre her, zum anderen hat Haigh für das ebenfalls von ihm verfasste Drehbuch einige Punkte des Romans deutlich geändert, ohne aber vom Kern des Ganzen abzuweichen.
In Yamadas Buch war es ein TV-Schreiber, der in einem Bürohaus an einer Kreuzung in Tokio nachts fast alleine lebt, lediglich eine Frau noch weilt in einem anderen Stockwerk, die ihn irgendwann anspricht und in die er sich verliebt. Parallel hierzu trifft er auf ein Paar, das große Ähnlichkeit mit seinen vor langer Zeit schon verstorbenen Eltern hat und mit dem er sich anfreundet. In “All Of Us Strangers” ist es Adam (Andrew Scott), der am Stadtrand von London in einem fast leeren, hohen Wohnhaus ein einsames Dasein fristet, bis er auf Harry (Paul Mescal) stößt, der nicht nur im gleichen verlassenen Hochhaus lebt, sondern kurz darauf auch mit einer Flasche hochprozentiger, japanischer Spirituosen leicht angetrunken an seine Tür klopft.
Eigenbrötler Adam weist die erste Kontaktaufnahme zurück, scheint hierdurch aber inspiriert, sich mit seinem bisherigen Leben auseinanderzusetzen und in seiner Funktion als Fernseh-Drehbuchautor über seine Vergangenheit zu schreiben. Hierfür fährt er mit dem Zug in die Vorstadt-Gegend, in der er einst als Junge aufwuchs, bis seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, als er gerade einmal zwölf Jahre alt war. Statt auf ein leeres oder von anderen bewohntes Haus zu treffen, sind es zu seiner Verwunderung dann allerdings seine Eltern selbst (Claire Foy und Jamie Bell), die er antrifft und die natürlich froh sind, den zum Mann gewordenen Jungen nach so langer Zeit mal wieder zu sehen.
Dadurch, dass die Eltern noch exakt so aussehen wie damals, als sie aus dem Leben gerissen wurden, ist Adam schon klar, dass das gerade Erlebte nicht der Realität entsprechen kann, aber er lässt sich hierauf ein, genauso wie auch auf Harry, den er nicht nur kennen lernt, sondern mit dem er auch eine Liebesbeziehung beginnt. Bei folgenden Treffen mit den Eltern ist es dann allerdings gar nicht so einfach, ihnen zu erklären, wie sein Leben aussieht und dass er homosexuell ist. Damals vor 30 Jahren wurde dies noch als unnormal tabuisiert, und so ist vor allem seine Mutter stark irritiert und sogar verängstigt, während der Vater sich hier weniger Gedanken macht und sich lieber mit Adam an andere Dinge aus der Vergangenheit erinnert.
Die Beziehung zu Harry wird immer enger, Clubabende mit Alkohol und Ketamin als Partydroge tun Adam aber nicht gut, bei dem die Visionen mit seinen Eltern immer tiefer gehen, mit Erinnerungen an Weihnachten und die Zeit, wo er nach dem Unfall bei seiner Großmutter weiterleben musste. Schließlich entscheidet er, Harry mit zu seinen Eltern zu nehmen, um ihn vorzustellen.
Die Geschichte von “All Of Us Strangers” kann man nur schwer so umreißen, dass sie wirklich reizvoll klingt, mit dem Film ist Andrew Haigh, der mit “Weekend” (2011), “45 Years” (2015) und “Lean on Pete” (2017) ja bereits hervorragende Kritiken einfuhr, aber ein wahres Meisterwerk gelungen. Die Art und Weise, wie hier ein persönliches Trauma und Schicksal aufbereitet und zudem die Suche nach einer funktionierenden Identität und dem Weg raus aus der Isolation beschrieben wird, weiß zutiefst zu berühren und der Film geht so unter die Haut, dass einem Tränen in die Augen schießen.
Die Inszenierung ist hervorragend, die atmosphärischen Bilder von Kameramann Jamie D. Ramsay sind es auch, der Film wäre aber nur die Hälfte wert ohne seine umwerfend aufspielenden DarstellerInnen. Der Ire Andrew Scott, den man aus den Serien “Sherlock” und “Fleabag” oder Filmen wie “1917” kennt, verkörpert den eher zurückhaltenden Adam mit all seinen Gemütsfacetten überragend und erhielt hierfür nicht umsonst eine Golden Globe Nominierung als “Bester Schauspieler – Drama”. An seiner Seite brilliert Paul Mescal, der 2021 erst sein Filmdebüt gab, für sein Spiel in “Aftersun” Oscar®-nominiert war, zwischendurch mal als neuer James Bond gehandelt wurde und nun den Harry mit seinen draufgängerischen wie gefühlsbetonten Momenten äußerst glaubhaft und mit viel Esprit ausfüllt – hierfür ist er als “Bester Nebendarsteller” bei den BAFTA Awards nominiert, die am 18. Februar vergeben werden. Nicht zu vergessen sind auch Claire Foy und Jamie Bell, die als plötzlich wieder präsente Eltern von Adam drei Dekaden zurückblicken lassen und hierbei glänzen.
Für Andrew Haigh ist der Film weit mehr als nur die Umsetzung eines Stoffes. Nicht nur wurde das Haus, in dem er selbst seine Kindheit verbrachte, als Spielstätte der Szenen erwählt, in denen Adam sein altes Zuhause besucht und seine Eltern wiederfindet. Für ihn war das Ganze in seiner Adaption mit einer schwulen Beziehung auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und den 80er-Jahren, in denen es für Homosexuelle wie ihn alles andere als leicht war, sich auszuleben und trotzdem akzeptiert zu werden. Haigh erklärt: “I was interested in exploring the complexities of both familial and romantic love, but also the distinct experience of a specific generation of gay people growing up in the 80s. I wanted to move away from the traditional ghost story of the novel and find something more psychological, almost metaphysical.” Dies ist ihm eindrucksvoll geglückt.
Bei den British Independent Film Awards im Dezember räumte “All Of Us Strangers” sieben Auszeichnungen ab, hierunter als “Best British Independent Film”, Andrew Haigh für “Beste Regie” und “Bestes Drehbuch” sowie Paul Mescal in der Kategorie “Best Supporting Performance”, in der auch Foy und Bell nominiert waren. Der London Film Critics’ Circle kürte Andrew Scott zum “Actor of the Year” und den Streifen zum “British/Irish Film of the Year”. Einige zusätzliche Preise und zahlreiche Nominierungen kamen hinzu, und einige stehen ja noch aus, wie die fünf bei den British Academy Film Awards (BAFTA) und zwei bei den Satellite Awards. Dass keine Oscar®-Nominierung erfolgt ist, das bleibt fast unergründlich und kann nur extrem hochwertiger Konkurrenz geschuldet sein, ist “All Of Us Strangers” doch eine absolute Indie-Film-Perle, die man nicht verpassen sollte, mit einer der schönsten, bewegendsten Liebesgeschichten unseres Kino-Jahres 2024.
Trailer:
Bewertung: 10 von 10 Punkten