All eure Gesichter
Darsteller: Élodie Bouchez, Adèle Exarchopoulos, Gilles Lellouche, Dali Benssala
Regie: Jeanne Herry
Dauer: 118 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: www.arthaus.de/all_eure_gesichter
Facebook: facebook.com/ARTHAUS
Kinostart: 14. Dezember 2023
Erst spät verrät uns Regisseurin und Drehbuchautorin Jeanne Herry, wo in ihrem neuen Drama „All eure Gesichter“ die Reise hingehen soll, wenn sie uns anfangs nur die Einarbeitung psychologischer Betreuer zeigt. Was wir aber sofort verstehen, ist, dass es nicht nur besonderer Empathie sondern eben auch akribischer Vorbereitung bedarf um vorbelastete Menschen beim nicht einfachen Aufeinandertreffen zu begleiten. Es ist ein gefühlt unendliches Seminar, das Judith (Élodie Bouchez), Fanny (Suliane Brahim) und Michel (Jean-Pierre Darroussim) eingangs inklusive Rollenspielen und anschließender umfangreicher Auswertung durchlaufen, bevor sie sich endlich in der Lage sehen, Begegnungen von Opfern und Tätern von Gewaltverbrechen zu organisieren.
„Restorative Justice“ nennt sich ein Programm in Frankreich, das in Deutschland in ähnlicher Form unter Mediation oder Täter-Opfer-Ausgleich bekannt ist. Dabei sollen von Sozialarbeitern und auch ehrenamtlichen Helfern arrangierte Treffen sowohl Opfern als auch Tätern die Gelegenheit geben, ihre meist traumatischen, quälenden Erlebnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten. Das leuchtet bei den Opfern sofort ein, leiden sie doch manchmal ihr Leben lang unter den psychischen Folgen, die das Verbrechen bei ihnen hinterlassen hat. Doch auch bei Straftätern handelt es sich nicht immer um gewissenlose Bestien, und so kann auch bei ihnen die Beschäftigung mit ihren Vergehen durchaus therapeutischen Erfolg versprechen.
Dass unsere drei Mediatoren die Mühen der Vorbereitung nicht ganz umsonst auf sich genommen haben, macht Herry schon durch Judiths Anbahnung des Treffens eines Missbrauchsopfers mit ihrem Peiniger mehr als deutlich. Ausgerechnet von ihrem Bruder ist die junge Chloé (Adèle Exarchopoulos) im Kindesalter regelmäßig missbraucht worden. Jetzt wohnt er wieder in der Nachbarschaft, und es droht eine zufällige Konfrontation in der Öffentlichkeit. Grund genug für Chloé, ein Gespräch in sicherer Umgebung zu suchen, an dessen Ende im Idealfall eine Entschuldigung stehen soll. Doch so einfach, wie man sich das vorstellt, ist das Ganze nicht, bemüht sich Judith schon im Vorfeld Erwartungen abzuklären und damit einer Enttäuschung der immer noch sehr fragilen Chloé vorzubeugen.
Mindestens genauso delikat verhält es sich mit der Gesprächsrunde, die Fanny und Michel mit gesprächsbereiten Häftlingen des örtlichen Gefängnisses organisieren. Ihre drei Schützlinge sind allesamt Opfer von Raubüberfällen geworden, die sie alle auch nach Jahren nicht im Geringsten verarbeitet haben. Ihnen gegenüber sitzen drei Täter, die wegen ähnlicher Delikte einsitzen und jetzt zum ersten Mal unmittelbar mit den Folgen ihrer Taten konfrontiert werden. Ob nun die ältere Sabine (Miou-Miou) einen Handtaschenraub mit massiven körperlichen Konsequenzen erleiden musste, Nawelle (Leïla Bekhti) als Kassiererin bei einem Supermarktüberfall brutal bedroht oder Grégoire (Gilles Lellouche) hilflos Opfer eines Einbruchs wurde, für sie alle ist es schwer traumatisiert immer noch unmöglich ein normales Leben zu führen.
Das alles erfahren wir nach und nach in von Herry fast klinisch inszenierten Wortbeiträgen in der Runde, mit denen sich die Opfer in emotionalen Nahaufnahmen immer mehr öffnen und ihre tiefen seelischen Wunden offenbaren. Das bleibt auch bei den Tätern nicht folgenlos und ist vom gesamten Ensemble dermaßen authentisch gespielt, dass man sich sofort inmitten eines intensiven Konflikts wiederfindet. Erst durch die eindrücklichen Schilderungen der Opfer weicht hier die anfängliche Trotzhaltung der Täter langsam auf, lässt sie über die Folgen ihres Handelns nachdenken und wird aus einzelnen Wortmeldungen ein hitziger aber ehrlicher Disput. Und am Ende steht sogar Mitgefühl und Reue, wo vorher nur der Blick für den materiellen Schaden war.
Herry gelingt damit ein aufwühlendes Drama über Schuld und deren Anerkennung, die letztendlich beiden Seiten im therapeutischen Prozess weiterhilft. Gestützt auf die überragende Leistung ihrer Schauspieler:innen involviert sie uns so in eine Auseinandersetzung, die im Zusammenhang mit Verbrechen viel zu selten Erwähnung findet. Genauso wie der gesellschaftliche Hintergrund von Straftätern, der bei aller Berücksichtigung der Täterperspektive auch hier wieder hinten runterfällt.
Trailer:
Bewertung: 8 von 10 Punkten