Anora
Darsteller: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Karren Karagulian, Anton Bitter
Regie: Sean Baker
Dauer: 139 Minuten
FSK: freigegeben ab 16 Jahren
Website: www.upig.de/micro/anora
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Kinostart: 31. Oktober 2024
Sean Baker ist so etwas wie der Inbegriff eines Independent-Regisseurs. Ob nun aus Kostengründen ausschließlich mit Smartphones gedreht wie „Tangerine L. A.“ (2015) oder ungemein präzise beobachtet wie seine fein gezeichneten Gesellschaftsbilder „The Florida Project“ (2017) und zuletzt auch „Red Rocket“ (2021), selten lässt er sich in seine Produktionen reinreden, mit denen er bei aller Unterhaltsamkeit immer gleichzeitig auch einen neugierigen Blick auf soziale Randbereiche wirft. Sein neuer Film „Anora“ bildet da keine Ausnahme, der damit auch die Jury von Cannes überzeugte und bei den diesjährigen Filmfestspielen die Goldene Palme als Bester Film gewann.
Sein Schlaglicht richtet er diesmal auf die junge Anora, kurz Ani (Mikey Madison), die sich zur Verwirklichung ihres persönlichen American Dreams als Sexarbeiterin in einem einschlägigen New Yorker Etablissement verdingt. Dort betätigt sie sich wahlweise als Stripperin oder, wenn die Kohle stimmt, auch mal als Escort-Girl. Dabei ist sie sich für nichts zu schade, muss sich im Dance-Club der stutenbissigen Kolleginnen erwehren, und selbst wenn das Geld gerade mal dazu reicht, nicht auf der Straße zu landen, hört sie nicht auf von einer rosigen Zukunft zu träumen.
Da trifft es sich gut, dass eines Abends der noch jüngere, großkotzige Ivan (Mark Eydelshteyn) mit seiner Entourage im Club einfällt und mit Geldscheinen nur so um sich schmeißt. Als Kind usbekischer Immigranten spricht Ani ganz passabel Russisch und ist damit prädestiniert für die Dienste an Ivan, dessen Englisch für eine Konversation kaum ausreicht. Irgendwie findet sie ihn aber auch ganz süß, den verspielten, unreifen Bubi, der aber vor allem über das nötige Kleingeld zu verfügen scheint. Da lässt sie sich nach dem unvermeidlichen, heißen Lapdance nur allzu gern von ihm für eine exklusive Nacht in seinem Luxusapartment buchen und muss danach ebenso wenig überredet werden, eine ganze Partywoche mit ihm und seinen Freunden zu verbringen, auch wenn er sich inzwischen als Sohn eines zwielichtigen russischen Oligarchen herausgestellt hat.
Was soll’s, Geld ist demnach genug vorhanden, und außer einer Menge ausschweifendem Sex gibt es da obendrein das pralle Leben, das sich Ani selbst niemals wird leisten können. Dass sich Ivan neben ihr überwiegend verschiedensten Drogen und der PlayStation widmet, geschenkt, zu hingerissen ist sie vom kindlichen Charme des jugendlichen Liebhabers, der sich noch dazu voll zu ihr bekennt. Und zu verlockend ist seine romantische Idee einer spontanen Hochzeit in Las Vegas, die ihr endgültig den Weg aus der prekären Sexclubwelt ermöglichen und ihm die gewünschte amerikanische Staatsbürgerschaft zur Distanzierung von seinen Eltern einbringen würde. Gesagt, getan. Die Ehe seines verzogenen Sohns mit einer Prostituierten jedoch kann der Oligarchen-Daddy keinesfalls dulden und setzt kurzerhand ein handfestes Schlägerteam rund um seinen bewährten Troubleshooter Toros (Karren Karagulian) auf das frisch vermählte Paar an.
Diese Mission zur Annullierung der indiskutablen Ehe klingt zwar erstmal einigermaßen böse, was Baker hier aber daraus macht, ist eher Screwball-Komödie als finsteres soziales Drama, auch wenn einem Ani schon nach kurzer Zeit wirklich leidtun kann, die sich trotz der massiven, russischen Intervention an ihren Traum klammert. Diese inszeniert der Regisseur fast schon skurril als chaotisches Durcheinander, das zwar mit reichlich Situationskomik bestens unterhält, bei dem jedoch die menschliche Komponente zwischendurch deutlich zu kurz kommt.
Für die ist hier eindeutig Mikey Madison verantwortlich, die uns wunderbar an der bitteren Enttäuschung ihrer Anora teilhaben lässt, als sich Ehemann Ivan unversehens vor der Konfrontation aus dem Staub macht, und sich Ani auf einmal allein buchstäblich mit den Russen rumschlagen muss. Oder hat die Romantikerin am Ende doch mehr in die Beziehung investiert als nur die Hoffnung sich endlich aus ihrem Milieu verabschieden zu können?
Bakers abgedrehte Suche nach dem untergetauchten Ivan jedenfalls ist wirklich amüsant, auch wenn sie teilweise haarscharf am Klamauk vorbeischrammt. Was er aber auch diesmal wieder beweist, ist seine feine Beobachtungsgabe sozialer Gegensätze, mit der er hier erneut Menschen am Rand der Gesellschaft Gehör verschafft. Das hat gerade zum Ende hin eine enorme emotionale Tiefe, die man nach allem hysterischen Chaos kaum für möglich gehalten hätte, dem kurzweiligen Film aber einen würdigen Abschluss verleiht.
Trailer:
Bewertung: 7 von 10 Punkten