Die Magnetischen
Darsteller: Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Fabrice Adde
Regie: Vincent Maël Cardona
Dauer: 98 Minuten
FSK: freigegeben ab 16 Jahren
Website: port-prince.de/projekt/die-magnetischen
Facebook: facebook.com/PORTAUPRINCEfilms
Mit “Die Magnetischen” kommt ein Film in unsere Kinos, der vor allem diejenigen gefangen nehmen dürfte, die die frühen 80er-Jahre als Teenager oder junge Erwachsene erlebt haben, oder sich mit der damals jüngeren Generation, ihren Werten und ihrer Musik identifizieren konnten.
Bei den Internationalen Filmfestspiele Cannes wurde der Streifen 2021 in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs als Entdeckung gefeiert und ausgezeichnet, und kürzlich gewann er den CÉSAR als Bester Debütfilm – schließlich veröffentlichte Regisseur Vincent Maël Cardona vorher nur eine Reihe an Kurzfilmen. Hauptdarsteller Thimotée Robart wurde für seine überzeugende Leistung zudem mit dem Prix Lumière als Bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet.
Robart spielt Philippe, der 1981 in der französischen Provinz gerade vom Jungen zum Mann wird, und das in einer Stimmung zwischen Aufbruch und Resignation. Die bunten Blüten der 70er scheinen verwelkt, die Zeiten sich zu verdunkeln, und das schlägt sich auch in der Musik der Zeit nieder, die er genauso liebt wie sein älterer Bruder Jerôme (Joseph Olivennes). Wenn die Arbeit in der Autowerkstatt ihres Vaters (Philippe Frécon) getan ist, ziehen sich die beiden auf einen geheimen Dachboden zurück, der sie aufleben lässt, hier nämlich betreiben sie den Piraten-Radiosender “Radio Warsaw”. Lebemann Jerôme ist der von einigen Mesdames angehimmelte Sprecher, der ruhige, schüchterne Philippe der Zauberer im Hintergrund, an den Reglern, den Turntables, den Bandmaschinen, den Cassetten – hierbei auch gerne mit der Technik und Klängen experimentierend.
Die beiden machen nicht nur Radio, sie zelebrieren die Indie-Musik, beim Senden, aber auch auf Parties. Alkohol wird konsumiert, es wird gekifft, getanzt, gegrölt – am liebsten zu den Klängen von Bands wie Joy Division, die für sie den Nerv der Zeit optimal getroffen haben und zudem durch den Freitod ihres Frontmanns Ian Curtis noch mehr Kultstatus gewannen. Und wenn der sich noch gut kontrollierende Philippe dann seinen Bruder mal wieder völlig berauscht auf dem Mofa nach Hause bringt, dann rastet der Vater regelmäßig aus und es kommt zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen ihm und Jerôme.
Diese Seite an Jerôme ist Philippe zwar auch zu extrem, aber er liebt seinen Bruder und ist durchaus neidisch auf die Leichtigkeit und Gelassenheit, mit der er durchs Leben geht – und auf die Liebschaften, die er hat. Bei seiner neuesten, Marianne (Marie Colomb), die mit ihrer kleinen Tochter aus Paris in ihren Ort zurück gezogen ist, ist es mehr als Neid – auch Philippe verliebt sich. Er will seinem Bruder aber natürlich nicht in die Quere kommen, traut sich dies sowieso nicht zu, und doch sucht er Mariannes Nähe, ob er sich nun von ihr als Friseurin die Haare schneiden lässt oder sonstig Blicke austauscht.
Als Philippes Versuch misslingt, für den Militärdienst ausgemustert zu werden, wird er nach West-Berlin geschickt. Zunächst ist er hiervon wenig begeistert und probiert sich das Ganze mit dem üblichen “Hier wirst du zum Mann” schön zu reden, verliert sich zudem in die von Marianne zum Abschied überreichten Mixtapes mit Musik aus dem West-Berliner Underground wie Nina Hagen und Malaria! – und einigen netten Worten als Überraschung. Dann aber bekommt er über den schon länger Wehrdienst leistenden Édouard (Antoine Pelletier) die Chance, beim britischen Militärradiosender BFBS den Radiomoderator Dany (Brain Powell) als DJ zu beeindrucken und traut sich sogar, Marianne per Radio seine Liebe zu gestehen. Doch was bringt dies, und wie sieht es zu Hause überhaupt inzwischen aus, vor allem zwischen dem Vater und Jerôme?
Regisseur Vincent Maël Cardona ist es wunderbar gelungen, die nicht einmal einfach zu beschreibende, ganz besondere Stimmung der frühen 80er-Jahre in seiner gefangen nehmenden Fusion aus Bildern und Musik zu vermitteln, mit einer Handlung, die den perfekten Spielraum hierfür bietet. Das Drehbuch ist dann auch eine ungewöhnliche Gemeinschaftsarbeit, die er so erklärt: “Da war vor allem der Wunsch gemeinsam zu schreiben und die Drehbuchautoren meiner Generation zu vereinen, die ich bewundere und die alle zu Beginn der 80er Jahre geboren sind: Romain Compingt, Chloé Larouchi, Maël Le Garrec, Catherine Paillé und Rose Philippon. Zusammen wollten wir ermessen inwiefern die digitale Revolution die Welt verändert hat, in die wir hineingeboren wurden, wie in einen Traum, eine separate Welt. Es ging darum, gemeinsam darüber nachzudenken, wir uns alle durch den Lauf der Dinge verändert haben.”
Die digitale Revolution wird hier vor allem in der Musik gespiegelt. Philippes Ideen, Alltagsgeräusche aufzunehmen und in Mischungen mit Rhythmen und anderen Klängen zu nutzen, sollte schließlich auch für einige Bands der Zeit prägend sein. Dazu kamen Combos, die elektronische Synthiesounds auf neue Weise ins Ohr hämmerten, und generell war Indie-Sein als Ausflucht aus dem Mainstream voll angesagt.
Die Handlung um den immer mehr zum Mann werdenden, vor allem aber immer mehr Selbstbewusstsein entwickelnden, absolut zum Sympathieträger taugenden Philippe, den Thimotée Robart wirklich toll verkörpert, katapultiert einen zurück in die damalige Zeit. Hierbei ist sie vielschichtig, geht es doch auch um Liebe, um das Verhältnis zum Bruder und Vater, und um die damalige Gesellschaft, die die Wahl Francois Mitterands zum Staatspräsidenten als Hoffnungsschimmer aufsaugte.
Der Film schafft – auch mit Hilfe der bestens ausgewählten Musik – eine ganz besondere Atmosphäre, die Lichter glänzen genau richtig, die Ausstattung ist optimal. Ein wirklich beeindruckendes Langfilm-Debüt von Vincent Maël Cardona, das man der zu Beginn umrissenen Zielgruppe nur empfehlen kann.
Trailer:
Bewertung: 9 von 10 Punkten