Home Film “Living – Einmal wirklich leben” – plötzliche Sinnsuche eines Vorzeigebürokraten

“Living – Einmal wirklich leben” – plötzliche Sinnsuche eines Vorzeigebürokraten

Autor: Mick

"Living – Einmal wirklich leben" Filmplakat (© 2023 Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH)

Living – Einmal wirklich leben

Darsteller: Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Adrian Rawlins
Regie: Oliver Hermanus
Dauer: 102 Minuten
FSK: freigegeben ab 6 Jahren
Website: www.Living-Film.de
Facebook: facebook.com/SonyPicturesGermany


Der japanisch-britische Drehbuchautor Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb“, „Alles, was wir geben mussten“) hatte schon lange die Idee, Akira Kurosawas Sinnsuche „Ikiru“ aus dem Jahr 1952 einen neuen Anstrich zu verpassen und ins Nachkriegsengland zu verpflanzen. Mit Oliver Hermanus war auch schnell ein Regisseur für die Umsetzung seines Projekts gefunden, welches allerdings mit der Besetzung der Hauptrolle steht und fällt. Als wahren Glücksgriff kann man es da ansehen, dass ihm die Verpflichtung von Bill Nighy gelungen ist, der nun sein Remake „Living – Einmal wirklich leben“ fast allein trägt und dem seine Performance verdientermaßen sogar eine Oscar®-Nominierung einbrachte.

Er spielt im London des Jahres 1953 einen Bürokraten, wie er im Buche steht, der deswegen schön distanziert einfach nur Mr. Williams genannt wird. Ein Vorname schließlich würde ihm ein allzu menschliches Antlitz verleihen, der doch kurz vor der Rente tagein tagaus in der städtischen Bauverwaltung einer Maschine gleich Dienst nach Vorschrift macht und zwischen den riesigen Aktenbergen der Wiederaufbauprojekte in seiner Abteilung geschickte Arbeitsvermeidungsstrategien etabliert hat. Die stoßen dem jungen Mitarbeiter Peter (Alex Sharp) sofort gewaltig auf, als er voller Tatendrang und Idealismus in der Behörde seinen neuen Job antritt. Doch vor den jahrelang verfestigten Mechanismen des staatlichen Bearbeitungsapparates muss auch er bald kapitulieren, der trotz allem den Respekt vor dem stoisch seine Arbeit verrichtenden Mr. Williams nicht verliert.

Es ist schon beeindruckend, wie Regisseur Oliver Hermanus seine Atmosphäre des Nachkriegsengland kreiert, wo zwischen Ruinen und Wiederaufbaustimmung die ersten Pflänzchen des Wohlstands keimen. Wo man es als Privileg ansieht, zwischen Tweed-Jacketts und Bowler-Hüten als kleines Rädchen im Getriebe der zugeknöpften Gesellschaft seinen Platz im morgendlichen Vorortzug einnehmen zu dürfen. Wie gut passt dazu der verschlossene, kaum eine menschliche Regung zulassende Mr. Williams, dem es schon fast eine Freude ist, Antragsteller regelmäßig vor die Wand seiner Abteilung laufen zu lassen und die Bearbeitung ihrer Anliegen in die ferne Zukunft zu verschieben.

"Living – Einmal wirklich leben" Szenenbild (© Jamie D. Ramsay. Courtesy of Number 9 films / Sony Pictures Classics.)

(© Jamie D. Ramsay. Courtesy of Number 9 films / Sony Pictures Classics.)

Das alles aber ändert sich schlagartig, als er mit seiner Krebsdiagnose konfrontiert wird, mit der ihm sein Arzt im Idealfall noch ein Jahr Lebenszeit prognostiziert. Dem begegnet er mit einem ersten nachvollziehbaren, unkontrollierten Anflug von Hedonismus. Er bleibt ganz untypisch der Arbeit fern, sucht stattdessen das schnelle Vergnügen in einem nahegelegenen Seebad und baut dabei auch auf die Energie seiner jugendlichen Mitarbeiterin Margaret (Aimee Lou Wood), der er sogar etwas peinlich unverhohlen Avancen macht. Bald aber wird ihm klar, dass ihm das nicht die erwünschte Erfüllung bescheren wird, und er widmet sich fortan komplett dem Projekt eines Spielplatzneubaus, das er vorher durch die Untätigkeit seiner Abteilung torpediert hat.

Genauso wie im Tokio von Kurusawas Original bildet Hermanus in seinem Remake hier wunderbar den Stimmungswandel in der Gesellschaft Anfang der 50er Jahre ab, die die Nöte des Weltkriegs zwar hinter sich gelassen, sich aber noch lange nicht von dessen Nachwirkungen befreit hat. Exemplarisch dafür steht Mr. Williams, der sein Leben ganz der Arbeit widmet, dabei aber durch den schleppenden Wiederaufbau schlicht überfordert scheint. Erst sein persönliches Schicksal reißt ihn aus seinem resignierten Alltagstrott und gibt seinem Leben wieder einen Sinn, den er so lange verloren glaubte.

Obwohl es Hermanus bestens gelingt, uns einfühlsam in das London des Jahres 1953 mitzunehmen, läuft sein Drama doch sehr behäbig an, benötigt seine Einführung eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich der Hauptfigur ausreichend angenähert hat. Mit Williams‘ Suche nach dem Sinn seines Restlebens jedoch entwickelt der Film seine ganze Kraft, wird mit dem brillanten Bill Nighy als sich zum tatkräftigen Visionär wandelnden Williams fast schon philosophisch und verströmt zum Schluss sogar eine gute Portion menschlicher Wärme, die für den schleppenden Anfang allemal entschädigt.

Trailer:

Bewertung: 7 von 10 Punkten

 

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