Home Film “Memory” – ein tragisches Drama wird zur berührenden Liebesgeschichte

“Memory” – ein tragisches Drama wird zur berührenden Liebesgeschichte

Autor: Mick

"Memory" Filmplakat (© MFA+ FilmDistribution)

Memory

Darsteller: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Josh Charles, Merritt Wever
Regie: Michel Franco
Dauer: 103 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: www.mfa-film.de/kino/id/memory
Facebook: facebook.com/mfa.filmdistribution
Instagram: www.instagram.com/mfa_filmdistribution
Kinostart: 3. Oktober 2024


Zwischenmenschliche Beziehungen stehen beim bisherigen Werk des Mexikaners Michel Franco („Sundown – Geheimnisse in Acapulco“, „Chronic“) immer im Mittelpunkt seines Interesses. Und auch mit seinem neuen Film „Memory“ sorgte er im Wettbewerb der letztjährigen Filmfestspiele von Venedig ordentlich für Aufsehen, auch weil sein Schauspieler Peter Sarsgaard für seine Rolle des demenzkranken Saul den Preis als bester Hauptdarsteller gewann.

Doch konfrontiert werden wir von Franco zuallererst mit einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker, auf der Sylvia (Jessica Chastain) ihre 13-jährige Trockenheit feiert. Sie scheint zwischen ihren Schichten als Betreuerin von psychisch Kranken in einem sozialen Wohnprojekt und der alleinigen Erziehung ihrer Teenager-Tochter Anna (Brooke Timber) bei diesen regelmäßigen Treffen Halt im stressigen Alltag zu finden. Doch schon damit sät der Regisseur bei uns erste Bedenken, was die Stabilität der schroffen, abweisenden Sylvia angeht, hat doch Alkoholismus meist tiefer liegende Gründe.

Um sie wenigstens einmal auf andere Gedanken zu bringen, überredet ihre jüngere Schwester Olivia (Merritt Wever) sie dann auch, sie zu einem Highschooltreffen zu begleiten, welches dann ungeahnt alte Wunden wieder aufreißen soll. Dabei inszeniert es Franco äußerst mysteriös, wenn der stille Saul auf dem Revival den Kontakt zu Sylvia sucht, ohne sie in ein Gespräch zu verwickeln, sondern allein durch seine Anwesenheit schon einen Fluchtreflex Sylvias auslöst. Dass er ihr nach ihrem überhasteten Aufbruch mit dem nötigen Sicherheitsabstand bis nach Hause folgt, wirkt unbestritten nicht nur auf Sylvia überaus unheimlich. Dass er aber noch nicht einmal das Gespräch sucht, sondern stattdessen im herbstlichen Regen vor ihrer Haustür nächtigt, lässt eher auf Hilfsbedürftigkeit als auf Aggressionspotenzial schließen. Und so zögert selbst Sylvia, die ihre Wohnung genauso wie ihre Seele mit schwer überwindlichem Metall sichert, am nächsten Morgen auch nicht lange, um über die bei ihm gefundene Notfallnummer seinen Bruder Isaac (Josh Charles) zu kontaktieren.

"Memory" Szenenbild (© Teorema 2023)

Saul (Peter Sarsgaard) und Sylvia (Jessica Chastain)
(© Teorema 2023)

Wie sich herausstellt, ist Saul schwer an Demenz erkrankt, erinnert sich im besten Falle nur bruchstückhaft an Ereignisse und kann somit auch über sein merkwürdiges Verhalten am Vorabend nur unzureichend Auskunft geben. Doch Sylvia scheint darüber hinaus eine ganz spezielle Abneigung gegen Saul zu verspüren und begleitet ihn auf einem Spaziergang durch den Park, der die Stimmung von Francos Drama von einem Moment auf den anderen kippen lässt. Unverhohlen bezichtigt sie ihn, sie zusammen mit anderen in der Highschoolzeit mit Alkohol gefügig gemacht und sexuell missbraucht zu haben, was ihr jetziges Handeln schlagartig nachvollziehbar macht.

Diese Anschuldigung erklärt einiges und lässt uns gleichzeitig gewaltig schlucken, so groß ist das Trauma, das Sylvia seitdem mit sich herumschleppt. Und das soll auch nicht kleiner werden, als Saul, der sich wegen seiner Demenz keines Fehlverhaltens bewusst ist, längst von ihrer Schwester entlastet ist, war er doch noch gar nicht auf der Schule, als Sylvia diese nach dem Vorfall verlassen hat. Langsam nämlich enthüllt Franco eine weitere, noch tiefere Wunde des Missbrauchs Sylvias durch ihren Vater, der in der gesamten Familie noch immer totgeschwiegen wird.

So kann einem der sanfte Saul bei Sylvias Reaktion fast leidtun, und auch sie scheint etwas gutmachen zu wollen, als sie einwilligt, regelmäßig seine Tagesbetreuung zu übernehmen. Trotz ihres Fehlstarts nähern sich die beiden so unterschiedlich belasteten Seelen hier einander langsam an und finden über das Vertrauen vorsichtig sogar eine zarte Liebe. Und das, wo Sylvia die Vergangenheit so weit wie möglich vergessen will, während Saul um jedes Fünkchen Erinnerung kämpft. Das zeigt uns Franco angenehm behutsam, verzichtet gänzlich auf Kitsch und Sentimentalitäten und setzt stattdessen auf eine unglaubliche Authentizität, mit der uns sein wunderbar interagierendes Schauspielerpaar sofort gewinnt.

Man könnte meinen, die schweren Themen Kindesmissbrauch, Verdrängung, Vergewaltigung, Alkoholismus und Demenz wären zu viel an Dramatik für einen Film, der sich zumindest annähernd einen positiven Grundtenor bewahren will. Auf wundersame Weise jedoch gelingt es dem Regisseur, all das einfühlsam abzuarbeiten, ohne sich damit zu überheben und sogar in einer herzenswarmen, außergewöhnlichen Liebesgeschichte zu enden. Das macht sein Drama zu einem anspruchsvollen Erlebnis mit enormer emotionaler Tiefe, das in seinen zärtlichen Momenten auch noch ungemein anrührt.

Trailer:

Bewertung: 8 von 10 Punkten

 

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