X
Darsteller: Mia Goth, Jenna Ortega, Martin Henderson, Brittany Snow
Regie: Ti West
Dauer: 105 Minuten
FSK: freigegeben ab 12 Jahren
Website: www.capelight.de/x
Facebook: facebook.com/capelightpictures
Wenn der amerikanische Regisseur, Drehbuchautor und Filmeditor Ti West, der sich vor allem mit Horrorfilmen wie “The Innkeepers – Hotel des Schreckens” oder “The House of the Devil” einen Namen gemacht hat, nach mehreren Jahren der Arbeit für das Fernsehen bzw. Streaming-Plattformen wieder einen Kinofilm vorlegt und dieser vom angesehenen Independent-Erfolgsstudio A24 (“Hereditary – Das Vermächtnis”, “Midsommar”) produziert wird, dann ist die Erwartungshaltung groß. Dieser wird sein neuer Streifen “X” allerdings gerecht.
Als sich eine sechsköpfige Gruppe junger Filmschaffender 1979 im Kleinbus auf zu einem abgelegenen Farmhaus in Texas macht, hat sie wenig Equipment, aber viel Ambitionen im Gepäck, schließlich will man mit “The Farmer’s Daughters” einen Porno drehen, und dieses Genre boomt gerade mächtig. Während die kokainsüchtige Stripperin Maxine Minx (Mia Goth) daran glaubt, der von ihrem selbstverliebten Freund Wayne Gilroy (Martin Henderson) produzierte Schmuddelfilm sei für beide nur eine notwendige Zwischenstation auf dem Weg zum großen Ruhm, scheint die affektiertere, aber realistischere Bobby-Lynne Parker (Brittany Snow) mit ihrem ebenso sexsüchtigen Lover Jackson Hole (Scott Mescudi – besser bekannt als Rapper Kid Cudi) im Genre genau richtig aufgehoben. Für optimale Bilder und Stimmung soll Regisseur und Kameramann RJ Nichols (Owen Campbell) sorgen, schließlich hat er Jean Luc Godards Stil studiert und bringt einige Einflüsse großen Kinos mit – samt seiner Freundin Lorraine Day (Jenna Ortega), die Pornos eigentlich gar nicht zugeneigt ist, ihre Wertvorstellungen aber RJ zuliebe mal beiseite räumt, um als Mikrofonhalterin und auch sonst am Set zu unterstützen.
Nachdem der greise, konstant mürrische Farmbesitzer Howard (Stephen Ure) als Kriegs-Veteran zur Begrüßung das Gewehr heraus holt, da er bereits vergessen hat, dass er sein kleines, keine 100 Meter entfernt gelegenes Nebenhaus an eine Gruppe vermietet hatte, kann diese einziehen – und auch das Ausziehen kann beginnen, wobei Wayne dem Farmer besser nicht verraten hat, weshalb sie vor Ort sind. Dies bemerkt allerdings seine ebenso alte Frau Pearl (Mia Goth in einer kaum erkennbaren Doppelrolle), die beim Blick durch das Fenster Maxime in heißer Aktion mit Jackson erwischt. Angetan von der jungen Attraktiven, die sie an ihre eigene, leider deutlich vergangene Jugend erinnert, und frustriert vom nicht mehr existenten Sexualleben mit ihrem Mann, entwickelt sich eine Stimmung, die zu blutigen Taten führt.
Mit “X”, der seine Deutschlandpremiere als Eröffnungsfilm der Fantasy Filmfest Nights 2022 feierte, liefert Ti West einen sehr atmosphärisch gemachten Horrorfilm, der zunächst mit jeder Menge Retro-Charme daher kommt. Die erste Hälfte des Streifens erzeugt eine wunderbare 70er-Jahre-Stimmung und greift auch den Geist des New American Cinema auf, als damals junge Filmschaffende herum experimentierten und dann gerade in Genres wie Horror und Porno mit Low-Budget-Produktionen ganz neue Ufer betreten wurden. “Wenn ich mir Filme aus den 1970ern anschaue, ist es offensichtlich, dass sie von Leuten gemacht wurden, die die Kunst des Kinos liebten – und das vermisse ich”, sagt West. “Einer der Hauptantriebe für mich, ‘X’ zu machen, war der Wunsch, etwas Anspruchsloses zu nehmen und zu sehen, ob ich daraus etwas Anspruchsvolleres machen könnte. Es war eine inspirierende Herausforderung, traditionelle Exploitationfilm-Tropen, wie Sex und Gewalt, zu nehmen und sie auf eine durchdachtere Weise neu zu interpretieren.”
Die aus sehr unterschiedlichen Charakteren bestehende Klein-Gruppe arbeitet mit beschränkten Mitteln, aber ambitioniert am Film im Film, und so sehen wir auch einige Aufnahmen aus “The Farmer’s Daughters” mit seiner so Porno-typischen Handlung in verstaubter 4:3-Optik, stilistisch sehr geschickt eingebunden. Dass auch Lorraine nach anfänglicher Abneigung ihr Wertebild umschreibt und ihren völlig verdutzten Freund bittet, ihr als Regisseur auch eine Rolle im Streifen zu verpassen, heizt die Atmosphäre umso mehr an.
Dass das Böse hier nicht in missgebildeten Hillbillies oder irgendwie mutierten Wesen lauert, sondern einfach nur in einem alten Ehepaar, das passt zu Wests Ansatz, einen Horrorfilm zu liefern, der sich abhebt. Durch seinen unaufhaltsamen Herbst des Lebens haben die Greise nicht mehr viel zu verlieren, und durch den Alltag des Altseins ist die Wärme ebenso gewichen wie durch Howards Kauzigkeit. Die Liebe ist zwar noch da, aber als die durch den Pornodreh inspirierte Pearl in einem finalen Versuch der körperlichen Annäherung zurückgewiesen wird, wandelt sich “X” in einen Slasher.
Nicht umsonst singt Bobby-Lynne während einer Drehpause eine Akustikversion der Ballade “Landslide” von Fleetwood Mac, eines Loblieds auf die Schmerzen des Alterns in Würde, wenn die Zeit an einem vorbeizurasen scheint. “Der Song beschreibt sehr gut die Melancholie, die mit dem Älterwerden einhergeht”, erklärt West. “Es war der perfekte Song für die Split-Screen-Sequenz, in der die beiden Handlungsstränge – die jugendlichen Filmemacher und ihre älteren Gastgeber – gegenübergestellt werden, denn das ist der Moment, in dem der Film wirklich in einen anderen Gang schaltet.”
Das tut er, und doch besitzt “X” selbst als Slasher in seiner zweiten Hälfte dann noch viel Stil und verliert auch hier, wo es blutiger wird, seine geschickt eingebauten schwarzhumorigen Momente nicht. Ein bemerkenswerter Horrorfilm, der mit guten Bildern und Ideen aufwartet, zudem auch sehr gut besetzt ist – und sich somit von der Masse der langweiligen 08/15-Schocker abhebt.
Trailer:
Den Trailer zu “X” findet man hier auf YouTube.
Bewertung: 8 von 10 Punkten