Archive
“Call To Arms & Angels”
(2CD, Dangervisit, 2022)
Das englische Kollektiv Archive bot seinen zahlreichen Fans zur Feier des 25-jährigen Bandjubiläums so viel, dass hierfür gleich zwei Jahre ins Land gingen. 2019 erschien die wundervolle Werkschau “25” mit bis zu 43 Songs inkl. acht neuer Tracks (lies unsere Rezension hier), gefolgt von einer ausverkauften, umjubelten Tour (lies unseren Bericht zum Konzert in Essen hier) und einem kostenlos zum Download angebotenen Live-Album.
Der Longplayer “Versions” mit sehr reduziert und entspannt arrangierten Neu-Interpretationen von einigen ihrer beliebtesten Songs aus den bisherigen zwölf Studioalben (lies unsere Rezension hier) sollte 2020 eigentlich den Abschluss bilden, mit “Versions: Remixed” (lies unsere Rezension hier) als Scheibe mit Remixen zu diesen alternativen Versionen wurde dann aber noch ein Schlusspunkt nachgeschoben.
Während viele andere Acts zuletzt dazu übergingen, ihr Alben vielleicht noch mit zehn Stücken, aber oft nicht mal mehr 40 Minuten abzuliefern, musste man sich bei Archive ja nie Sorge über eventuelle Unterversorgung machen – viel zu kreativ und ergiebig sind sie, und das bei fast immer überzeugender Qualität. Kein Wunder also, dass ihre zwölfte Studioscheibe “Call To Arms & Angels” als Doppelalbum erscheint und auf 104 Minuten satte 17 Titel umfasst.
In den RAK-Studios in London mit Jérome Devoise aufgenommen spiegelt sie die Welt im Jahr 2021 mit individuellen und kollektiven Frustrationen und Herausforderungen der Band ebenso wie die Realitäten und täglichen Kämpfe aller Individuen. Am 2. April feierte die biografische Video-Dokumentation “Super8: A Call To Arms & Angels” über die Entstehung des Albums weltweit auf Moment House Premiere – nun gibt es also endlich die Musik.
Mit “Surrounded By Ghosts” und der zu “Versions” dazu gestoßenen Sängerin Lisa Mottram geht es getragen und sphärisch, durchaus schön aber auch ein bisschen düster los, bevor das Ganze in die bretternden Riffs von “Mr. Daisy” übergeht, einer mitreißenden Nummer, bei der sie zusammen mit Pollard Berrier singt. Alleine die Kombination dieser beiden, in sich übergehenden Eröffnungsstücke ist so typisch für Archive, die immer wieder spannende Alben zu präsentieren wissen und hierbei nicht nur durch die verschiedenen VokalistInnen für jede Menge Abwechslung sorgen.
Das ruhig, sanft groovy und doch auch bedrohlich voran kriechende “Fear There & Everywhere” mit Pollards Stimme wurde bereits als dritter Vorbote geboten. Das surreale Video von Regisseur Jonathan Irwin verbildlicht die Angst und Konfusion der vergangenen zwei Jahre. Darius Keeler, der zusammen mit Danny Griffiths das kreative Kopf-Duo des Kollektivs bildet, erklärt: “‘Fear There & Everywhere’ is a song that we had the title for way before we wrote the song. I think subconsciously we were waiting for the right moment to reflect the period we’ve all been living through. The last two years have been unbearably dark in so many ways and I think it’s very difficult for people to know where to turn. We wanted the message in the song to be direct and raw and I think the video perfectly reflects that.”
Neben starken Stücken, die direkt zugänglich sind und einen wieder schnell in den typischen Archive-Kosmos ziehen, enthält das Album auch einige sperrige, avantgardistisch anmutende Tracks. “Numbers” ist so eine Nummer, die recht wild die Verwirrung und falsche Prioritäten in der heutigen Welt zu symbolisieren scheint. Weitere ganz bewusst nicht direkt zugängliche Songs sind später “Enemy”, das den Feind im Inneren zu verbrennen versucht, “Frying Paint”, und auch das kurz vor Ende platzierte, fast neun Minuten lange “The Crown” wirkt verstörend.
Da fällt es einem natürlich leichter, sich in ein Lied wie das sphärisch getragene, ruhige und düstere “Shouting Within” zu verlieben, den zweiten Vorboten. Sängerin Holly Martin erklärt zum Song: “In the past two years we’ve been seeing how constant fear and uncertainty can impact human connections. Writing ‘Shouting Within’, we were talking about how people have been feeling so angry, so paralysed and so vulnerable getting caught in the divide. Craving connection but fearing contact. So many theories, stories, highs and lows. It’s hard to suppress the inner rage that grows from that.”
Auch das hypnotisch pulsierende, tolle “We Are The Same” wusste als vierter und letzter Vorabsong bereits in seinen Bann zu ziehen. Holly erläutert: “‘We Are The Same’ represents how we’re trapped in a societal divide, seeing the things we hate in others and being unable to recognise them in ourselves… we’re all different, but we’re all the same when we conform.”
Ganz anders kam der allererste Appetizer daher, das über 14 Minuten lange “Daytime Coma”, mal pulsierend hypnotisch, mal ruhig, mal elektronisch getrieben und am Ende krachig abrockend – eine epische Archive-Nummer, wie man sie kennt und für die man die Band so liebt. Sänger Dave Pen erklärt zum Song: “I pictured people in high-rise box apartments with small windows, nowhere to go, stuck indoors with the television and mindless junk transmitting through the glowing box. It’s kind of bleak I suppose, but there is hope at the end with the line… ‘I see a light in darkness, save me’. Because there always is a light, there has to be.”
Auch die weiteren Stücke bieten viel Abwechslung, wie das getragene “Head Heavy” mit Gesang von Maria Q, das mal elektronisch zwirbelnde, mal treibend rockende “Every Single Day”, die ruhigen “All That I Have” und “Everything’s Allright”, das sphärische “Alive” oder der sich munter aus Archives unerschöpflichem stilistischem Bauchladen bedienende Zehnminüter “Freedom”. Mit “Gold”, dem zweiten Stück mit Vocals von Maria Q, hier mit Dave Pen, schließt ein weiterer mehr als acht Minuten servierender Song eine Scheibe ab, mit denen das Kollektiv mal wieder viele überzeugende Stücke bietet und vor allem sich treu bleibt, weit abseits der Norm hochklassige und äußerst interessante Musik zu produzieren.
Bewertung: 8 von 10 Punkten
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