Eigentlich sollte es, wie jedes Jahr zuvor, ein friedliches, stimmungsvolles Festival werden, doch Roskilde 2000 nahm einen unerwarteten, tragischen Verlauf. Wie wohl jeder mitbekommen hat, kam es beim Konzert von Pearl Jam am zweiten Tag zu einer Tragödie. Die Gründe werden wohl nie völlig klar werden, aber das Wetter gehörte mit Sicherheit dazu. Nach einem warmen und überraschend freundlichen Donnerstag, an dem Roskilde ein sonniges Fleckchen inmitten schwarzer Wolkenumrandung erwischt hatte, regnete es am Freitag von vormittags an. Es wurde nicht nur nass und kühl, sondern auch schlammig, auf den Campingplätzen wie auch auf dem Festivalgelände. Als Pearl Jam um 22.30 Uhr ihr Konzert auf der Hauptbühne, der Orange Stage, begannen, ahnte keiner das bevorstehende Unglück. Wie auch.
Das Roskilde-Festival, dieses Jahr zum 30. Male ausgetragen, gilt seit jeher als eines der bestorganisierten und auch sichersten Festivals. Kaum irgendwo sonst achten die Veranstalter so akribisch darauf, dass es den Besuchern gut geht und man sich wohl fühlt. Auf 75.000 Besucher kommen 25.000 Helfer und Mitarbeiter. Um den vorhandenen Platz nicht zu eng werden zu lassen, hatte man die Anzahl der Tickets vor einiger Zeit von 90.000 auf knapp über 70.000 gesenkt. Qualität der Speisen (Tiefkühlkost ist nicht erlaubt, alles muss frisch zubereitet werden), Umweltschutz, Sponsorenauswahl (Musiknachwuchsförderung ist hierbei wichtiger als Geld) – die Philosophie des Roskilde-Festivals hebt es sehr positiv von vielen Konkurrenzveranstaltungen ab. Nicht zu vergessen, dass es sich um ein “No Profit-Event” handelt und Gewinne für wohltätige Zwecke gespendet werden.
Leider aber schützen weder Philosophie noch beste Organisation vor einem Unglück, wie es an diesem Freitag passierte. Nachdem im hinteren Bereich Lautsprecher ausgefallen waren, drängte das Publikum mehr und mehr nach vorne zur Bühne. Dort kam es auf dem schlammigen Boden dazu, dass eine Gruppe von Fans hinfiel und in der Dunkelheit aufgrund der Enge nicht wieder auf die Beine kam. Hierbei starben acht Besucher durch Sauerstoffmangel, ein Schwerverletzter erlag seinen Verletzungen einige Tage später. Erste Berichte über Zertrampeln oder ein Erdrücken an den Wellenbrechern vor der Bühne bestätigten sich nicht. Lächerlich erscheint die abschließende Erklärung der dänischen Polizei, Pearl Jam hätten eine gehörige Portion Mitschuld, da sie dafür bekannt seien, das Publikum zu mehr Tumult aufzufordern. Das Gegenteil war der Fall. Frontmann Eddie Vedder hatte die Zuschauer mehrfach aufgefordert, nicht so zu drängeln. Nachdem die Band viel zu spät informiert wurde, dass es einen Zwischenfall gegeben hat, brachen Pearl Jam ihren Auftritt sofort ab. Als zu ahnen war, dass nicht alles glimpflich abgelaufen ist, sackte Eddie Vedder weinend auf der Bühne zusammen. Unter Besuchern und Presseleuten kamen schnell Vermutungen auf, Pearl Jam würden wohl nie wieder live spielen, sich vielleicht sogar auflösen, schließlich gilt Vedder als einer der sensibelsten Musiker im Business. Wie gesagt, man wird nicht erklären können, wie es zur Tragödie kam. Bei Massenveranstaltungen kann man Unfälle eben nicht hundertprozentig ausschließen. Die geschockten Veranstalter des Festivals werden sich, auch wenn ihnen die Einhaltung aller Sicherheitsmaßnahmen nach den Untersuchungen bestätigt wurde, Gedanken machen müssen, was man ändern, besser, sicherer machen kann.
Die Entscheidung, das Festival fortzusetzen, wurde von einigen Seiten kritisiert, war aber sicher die richtige. Nicht nur, dass ein Abbruch die Gefahr geborgen hätte, unter den frustrierten Besuchern Aggression zu schüren, nein, man hatte so zwei Tage Gelegenheit, das Miterlebte zusammen zu verarbeiten. Am Samstag um 17 Uhr fand auf der Hauptbühne ein kleiner Gedenkgottesdienst statt, an dem viel Publikum teilnahm. Die Stimmung war traurig, man sah viele weinende Gesichter, Fassungslosigkeit war an allen Ecken und Enden sichtbar. Leben und Tod liegen manchmal dicht beieinander, und wie schnell hätte man zu den Opfern gehören können?! Jeden, der auf Konzerten nicht vorsichtig am Rand steht, hätte es an diesem schwarzen Freitagabend erwischen können, schließlich waren alle neun Toten gestandene Männer.
Als erster Musiker nach dem Unglück spielte Youssou N’Dour auf der Orange Stage. Zum Andenken an die Opfer unterbrach er sein Konzert nach einigen Liedern und schritt zur neben einem Videoleinwandsturm errichteten Gedenkstätte, um Blumen nieder zu legen. Auch wenn das Festival weiter ging und die Bands auf den sieben Bühnen das taten, weswegen sie gekommen waren, dieser Ort der Ruhe und Trauer, wo viele Besucher Blumen, brennende Kerzen, Pearl Jam-Shirts, Karten mit Herzen und Gedichten, persönliche Utensilien oder aber ein Kreuz aus Bierdosen niederlegten, erinnerte jede Minute an das, was geschehen war, und ließ einen immer wieder mit Kloß im Hals von dannen gehen.
Am Samstag hatte der Regen aufgehört, es wurde sofort merklich wärmer und der Schlamm trocknete langsam wieder aus. Natürlich hatte die Stimmung stark gelitten, und einige Besucher waren bereits abgereist, allerdings nicht sehr viele. Jeder, der gekommen war, um The Cure in der Nacht zuvor um 1 Uhr auf der wunderschönen orangenen Bühne spielen zu sehen, hatte Verständnis, dass dies aus genannten Gründen ausfallen musste. Anders verhielt es sich mit den Absagen der beiden Hauptacts für Samstag, Oasis und den Pet Shop Boys, die zusammen erklären ließen, sie hielten es für pietätlos, das Festival fortzuführen. Bei Oasis weiß man, dass Liam Gallagher ja kaum einen Grund auslässt, um Konzerte zu verkürzen oder abzusagen, er scheint eben generell nicht mehr viel Bock zu haben. Vielleicht war dies ja auch ein Grund, das weiß man aber natürlich nicht. Die Pet Shop Boys lieferten die zusätzliche Begründung, ihre auf Freude und Party ausgelegte Show nicht dort aufführen zu wollen, wo eine Nacht zuvor Menschen starben – kann man nachvollziehen. Sauer machte allerdings, als sich herumsprach, dass beide Acts trotz Absage ihre Gagen haben wollten, wobei die Festivalleitung doch bereits erklärt hatte, diese den Angehörigen der Opfer spenden zu wollen. Wer verhielt sich denn nun pietätlos?
Zur Musik des Festivals, das mit einem warmen, sonnigen Sonntag einen freundlichen Abschluss erlebte. Man hatte wie immer die Qual der Wahl, und nicht selten hätte man sich am liebsten aufgespalten, um gleichzeitig mehrere der Bühnen und Zelte zu besuchen. Im Roskilde Ballroom erfreute einen Weltmusik, dieses Jahr mit einem kubanischen Schwerpunkt.
Im Technobereich gaben sich DJs und elektronische Formationen die Klinke in die Hand, Everything But The Girl überzeugten hierbei am Sonntag als letzter Act vor der Übertragung des Fußball-EM-Endspiels. Auf den anderen Bühnen zeigten mehr oder weniger bekannte Bands ihr Können, meist im Abstand von zwei Stunden, der ihnen die Freiheit ließ, Konzerte nicht extrem kürzen zu müssen. Neben Nine Inch Nails wussten am Donnerstag vor allem Bush im grünen Zelt zu gefallen, während die Hardrock-Fraktion sich an Iron Maiden erfreute. Freitag stachen Machine Head mit einem großartigem Konzert heraus, Frontmann Rob Flynn war ebenfalls sichtlich begeistert von der Stimmung im riesigen, grünen Zelt. Samstag war bedingt durch die Ereignisse des Freitags und die erwähnten Absagen ein eher trüber, besinnlicher, introvertierter Tag, wobei die Fields Of The Nephilim im gelben Zelt mit einem sehr starken Konzert untermauerten, wieder voll da zu sein. Sonntag ging es eher relaxt zu, man lag in der Sonne, bekletterte noch einmal die erbaute Pyramide aus bemalten Türen, bereitete sich langsam auf den Abschied vor.
Im Ballroom kam beim Algerier Cheb Aissa gute Stimmung auf, auf der Hauptbühne präsentierten die Schweden The Wannadies ihren tollen Britpop, im weißen Zelt legten Muse einen ihrer großartigen Auftritte auf die Bretter, und Altmeister Lou Reed ließ noch einmal das Herz der älteren Generation höher schlagen. Als letzte Band auf der orangenen Bühne hatten die Dänen von D-A-D beim Heimspiel das Publikum voll in der Hand und sorgten für einen passenden Abschluss eines leider diesmal nicht nur aufgrund positiver Ereignisse im Gedächtnis verbleibenden Festivals.