Einen fast optimalen Kurz-Einblick in die Welt der Klassik gibt eine neue Dreifach-CD namens “99xKlassik” allen Interessierten, und hierbei handelt es sich wohl vor allem um diejenigen, die nicht in oder mit klassischer Musik großgeworden sind, aber doch wissen wollen, was sich hinter den vielen Fachbegriffen verbirgt. Dazu kommen Kinder, die man – ein fortgeschrittenes Alter und gewisses Interesse voraus gesetzt – anhand dieser CD auch wunderbar in die Materie einführen kann, Schüler, denn diese Veröffentlichung ist sicher optimales Unterrichtsmaterial, und schlichtweg Wissbegierige, denn eigentlich schadet es keinem Allgemeinwissen, die Fachtermina und Instrumente der Klassik unterscheiden zu können … und wenn man dann bei Günther Jauch sitzt und Tutti nur als Partner von Frutti kennt oder Pizzicato nicht von Scherzo und Crescendo unterscheiden kann, dann wünscht man sich, vielleicht doch die vier Stunden relaxtes Hören investiert zu haben.
Holger Wemhoff, stellvertretender Programmdirektor und Chefmoderator beim Klassik Radio, erklärt auf jeder der drei CDs 33 Begriffe der Klassik. CD 1 widmet sich vokaler Klassik, CD 2 instrumentaler, und CD 3 allgemeinen Begriffen. Aufgebaut sind die Tracks wie ein Hör-Lexikon, bloß nicht alphabetisch – dafür hat man aber ja ein Booklet. Wemhoff erklärt die Begriffe, holt hierbei natürlich nicht zu weit aus, sondern kommt in genau der richtigen Zeit auf den Punkt – bestens verständlich und manchmal auch mit etwas Humor gespickt. Zusätzlich zu seinen Erklärungen gibt es zumeist ein bis drei Hörbeispiele, also Ausschnitte aus klassischen Werken, und bei einem Drittel der vorgestellten Begriffe zusätzliche Erklärungen von über einem Dutzend berühmter Persönlichkeiten aus der Klassik-Szene (wie Anne-Sophie Mutter, Hélène Grimaud, Andreas Scholl, Lang Lang, Anna Netrebko). Zum Begriff “Orgel” kommt sogar Harald Schmidt zu Wort, der vor seiner Karriere als Kabarettist und Moderator ja einst als Kirchemusiker dieses Instrument beherrschte. Manchmal bindet Wemhoff auch einige Antworten von Straßen-Umfragen mit ein, um zu zeigen, dass hier von Nicht-Wissen bis Ahnung alles anzutreffen ist – klamaukige Antworten abseits jeder Idee lässt er hierbei aus. Eigentlich hat Wemhoff alles richtig gemacht, “99xKlassik” ist der optimale Wegweiser durch die Welt der klassischen Musik für jedermann geworden. “Sopran”, “Kastrat”, “Tremolo”, “Spitzenton”, “Rezitativ”, “Fagott”, “Violoncello”, “Schlagwerk”, “Tutti”, “Kammerton”, “Atonal”, “Zwölftonmusik”, “Kontrapunkt”, “Pizzicato”, “Menuett”, “Scherzo”, “Partitur” – wer hier schon mehrfach passen muss, der sollte sich die Dreifach-CD zulegen und kann bald schon mit ungeahntem Wissen glänzen. Wir führten ein Interview mit Holger Wemhoff zu dieser interessanten Veröffentlichung:
“Mein absoluter Gottvater der Musik ist Franz Schubert.”
MUM: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Art Hör-Lexikon zur Klassik zu veröffentlichen?
HW: Vor einigen Monaten rief mich die Deutsche Grammophon an. Christian Kellersmann hatte die Idee zu diesem Projekt, und schon nach Sekunden war mir klar, dass diese Idee goldrichtig war, da der Sender Klassik Radio und auch ich in meiner Person seit Jahren versuchen, den weiten und manchmal komplizierten Begriff “Klassik” einfacher, greifbarer und damit “genießbarer” zu machen, sprich Schwellenangst abzubauen.
MUM: War es von Anfang an geplant, die CDs mit Zitaten bekannter Künstler zu würzen?
HW: Das gesamte Projekt war tatsächlich von Beginn als eine Art Collage geplant, mit Texten, Musikbeispielen, Tönen von der Strasse und Interviews von Klassikstars.
MUM: War es schwierig, die vertretenen Künstler hierfür zu begeistern? Wen hätten Sie noch gerne dabei gehabt, haben ihn aber leider nicht bekommen?
HW: Nahezu alle Stars waren sofort von der Idee begeistert, die Schwierigkeit bestand nur manchmal darin, denjenigen Künstler auch vor das Mikrofon oder ans Telefon zu bekommen, denn alle sind ja mehr als gut im Geschäft und haben ihre jeweiligen Termine rund um den Globus. So musste man schon mal einen günstigen Moment auf einer Party in New York abpassen, um Anna Netrebko für ihr Statement zum Begriff “Primadonna” zu bewegen. Gerne hätten wir auch Bariton Matthias Goerne bei dem Projekt dabei gehabt, das gestaltete sich allerdings aus verschiedensten Gründen als zu schwierig.
MUM: Wen sehen Sie als Haupt-Zielgruppe von “99xKlassik”?
HW: Vor allem diejenigen, die bereit sind, sich auf den spannenden und überraschenden Bereich “Klassik” einzulassen, die also neugierig sind, sich aber vielleicht durch Äußerlichkeiten wie Kleiderordnung im Konzert oder Fachbegriffe, die kein Mensch versteht, sich bisher haben abschrecken lassen. Aber ich denke auch an die Menschen, die vielleicht schon viel bei der Klassik draufhaben, aber bereit sind, noch Neues zu entdecken oder einiges vertiefen wollen. Vom Alterschnitt her denke ich, ist dieses Musiklexikon geeignet für Musikfans von 5-105.
MUM: Der Amazon.de-Preis für die Dreifach-CD liegt bei nur 12,99 Euro. Haben Sie darauf hingewirkt, die CD so erschwinglich zu halten?
HW: Das war eine Entscheidung der Deutschen Grammophon, die ich für absolut richtig halte. Denn wie schon im vorigen Punkt erklärt, hätte man das wundervolle Produkt zu hochpreisig angeboten, hätten sich gerade Neueinsteiger in die Klassik bestimmt abschrecken lassen.
MUM: Haben Sie selbst bei der Arbeit an dieser CD noch etwas dazu lernen können, was Sie noch nicht wussten?
HW: Etwas ist gut, vieles sogar! Ok, mit solchen Begriffen wie Tenor, Belcanto oder Oboe gehe ich täglich und seit Jahren um, aber wie man z.B. als Sänger ein Vibrato bildet, ist hochspannend und wenn einem das so bildlich wie auf “99xKlassik” von Countertenor Andreas Scholl “beigebracht” wird, ist es einfach das pure Vergnügen, etwas dazu zu lernen.
MUM: Sehen Sie die Klassik auch bei der jüngeren Generation wieder mehr im Kommen als noch vor einigen Jahren – auch dadurch, dass immer mehr auch einzelne Klassik-Künstler durch die Medien gehypt werden?
HW: Absolut, ja, das beobachte ich verstärkt bei Konzert oder Opernbesuchen, das Publikum verjüngt sich seit den letzten Jahren wieder. Man kann zu den “Drei Tenören” z.B. stehen, wie man will, aber die drei haben wirklich 1990 eine Welle der Begeisterung für die Oper losgetreten, die bis heute anhält. Und zwar vor allem bei Menschen, die bisher gar nichts mit Oper am Hut hatten, oder sogar negative Gedanken daran hatten. Und heute ist es gerade Anna Netrebko, die die ganze Szene wieder kräftig aufmischt und absolute Klassikmuffel auf einmal aufhorchen lässt. Solche Künstler haben wir bitter nötig!
MUM: Welchen klassischen Musiker der heutigen Zeit halten Sie als Insider der Szene für überbewertet, wen für unterschätzt?
HW: Was für eine gemeine Frage. Was überbewertete Künstler angeht, halte ich mich hier lieber etwas zurück, bei unterschätzten fallen mir durchaus ein paar ein. Tenor Bruce Ford z.B., der nur einem kleinen Kreis von Opernfans als grandioser Belcantotenor bekannt ist, der aber gut als “kräftiges Gegenstück” parallel zum ebenfalls fabelhaften Tenor Juan Diego Florez hätte aufgebaut werden können. Neil Shicoff ist ein weiteres Beispiel, von seinen Fans heiß und innig geliebt, aber von der breiten Masse nicht so wahrgenommen, wie er es verdient hätte.
MUM: Welches sind ihre drei liebsten klassischen Werke, und warum?
HW: Die Frage ist ja noch gemeiner. Aber gut, ein Versuch: Mein absoluter Gottvater der Musik ist Franz Schubert. Dürfte es nur ein Stück Musik geben, was ich auf die berühmte Insel mitnehmen dürfte, wäre es seine letzte, die neunte Sinfonie, mit dem Beinamen “Die Grosse”, hier ist der Name wirklich Programm. Außerdem muss Giacomo Puccinis “Tosca” mit oder seine “Turandot” und dann das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms, am besten mit Clifford Curzon oder Nelson Freire.
MUM: Hören Sie privat auch vor allem Klassik, oder als Abwechslung auch andere Stile aus der U-Musik? Falls letzteres, was wären Beispiele?
HW: Wie man schon bemerkt hat, bin ich ein ziemlicher Klassikfreak. Was ich aber darüber hinaus liebe und immer wieder faszinierend finde, sind Soundtracks, von Jerry Goldsmith und John Williams zum Beispiel, aber vor allem von meinem absoluten Filmmusikliebling Danny Elfman (“Big Fish”, “Corpse Bride”, “Batman” etc…)
MUM: Noch eine klassische Abschlussfrage für die erste Jahreshälfte 2006 – wer wird Fußball-Weltmeister?
HW: Aha, die gemeinste Frage also zum Schluss! Wenn ich jetzt hier und jetzt “Deutschland” sage, nimmt keiner mehr das vorher Beantwortete ernst. So drücke ich also unserer Mannschaft fest die Daumen und tippe auf England oder Brasilien.
Kurze Info zu Holger Wemhoff: Geboren wurde er am 9. Februar 1969 in Ibbenbüren/Westfalen. Nach dem Abitur folgte ein Studium der Theaterwissenschaft bis 1994, Schwerpunkt Musiktheater, italienische Philologie und neue deutsche Literaturgeschichte an der LMU München. Während dieser Zeit erhielt er einen Lehrauftrag für Operndarstellung an der Münchner Musikhochschule, übernahm zudem die Abendspielleitung im Theater am Gärtnerplatz München. Seit Frühjahr 1995 ist Wemhoff Redakteur und Moderator bei Klassik Radio in Hamburg, seit 1997 Chefmoderator und seit Herbst 2000 stellvertretender Programmdirektor.
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MUM: Mucke und mehr
HW: Holger Wemhoff
Mehr Informationen gibt es auf www.klassikakzente.de.