Für Fans deutschsprachiger progressiver Elektromusik gibt es nicht oft Grund zum Jubeln, sind doch nicht viele Bands oder Künstler am Start, die hier zu überzeugen wissen. Umso erfreulicher ist es, mal wieder eine neue Formation verkünden zu können, die sich hier in vorderen Reihen ansiedeln könnte. Ncor heißt das Trio, “Tiefenrausch” das Debütalbum, veröffentlicht beim Strange Ways Sub-Label Zeitbombe. Der Gesang von Ex-Model Kevin, der auch die Texte schreibt und sicher die Damenwelt locker schon durch sein Aussehen um den Finger wickeln kann, passt prima zur knackig harten, aber modern gemachten und stets tanzbaren elektronischen Musik – EBM des neuen Jahrtausends, nicht völlig neu, aber klanglich sehr gut gemacht. Um diese Töne kümmern sich Sebastian an den Synthies und Samplern, der auch so gut wie alle Songs programmiert und arrangiert, und Michael am Schlagzeug, wo er natürlich vor allem live zum Einsatz kommt.Produziert wurde die CD von Stefan Lenz (V-Lenz), der mit “Silver Surfer” auch einen Song komponiert hat – allerdings den langweiligsten der Scheibe. Hightlights der CD sind die erste Single “An dunklen Tagen” mit eingängiger Refrain-Melodie, das etwas grooviger gemachte “Tragödie” und das treibende “Das Leid”. Die anderen der insgesamt 13 Tracks auf 46 Minuten sind allerdings – bis eben auf “Silver Surfer”, welches hinten abfällt – auch wirklich gut, so dass man den Jungs zu diesem Debüt nur gratulieren kann. In Ncor steckt viel Potenzial. Wir führten ein Interview mit Kevin:
“Was wir erreichen wollen, sind vor allem Menschherzen.”
MUM: Erstmal Glückwunsch zu einem gelungenen, deutschsprachigen, modern klingenden EBM-Album – oder wo würdet ihr euch stilistisch einordnen?
K: Nun das ist sehr schwierig. Unsere eigenen musikalischen Vorlieben sind sehr vielseitig, das geht bei A wie Aphex Twin oder Apoptygma , über C wie Chemical Brothers bis hin zu NDW, Punk oder Powermetal. Sicher sind viele Einflüsse aus unserer musikalischen Vergangenheit und unseren Vorlieben eingeflossen. Schubladen sind nicht wirklich das, was wir bevorzugen, daher kann ich dir das nicht so genau sagen.
MUM: “Tiefenrausch” ist euer Debütalbum, und im Booklet ist von einem langen Weg die Rede. War es mühsam, einen Plattenvertrag zu bekommen, oder welchen Weg meint ihr?
K: Wir alle haben schon in unserer Kindheit Instrumente gelernt, mit 12 Jahren z.T. in der ersten Band gespielt. Diesen ersten musikalischen Äußerungen folgten recht bald diverse Musikprojekte. Aber erst 1998 haben wir uns zusammengefunden und Ncor gegründet. Wir waren selber überrascht, schon in 1999 das erste mal auf dem Wave Gotik Treffen spielen zu dürfen. Das war ja zudem unser Debutauftritt mit Ncor. Als wir dann 2000 den Battle Of The Bands beim Sonic gewannen, war das der Hammer. Es war sowohl persönlich als auch musikalisch ein sehr langer Weg, bis wir den ersten Deal hatten, wenn man die gesamte Zeit rechnet, in der wir schon Musik machen.
MUM: Kevin, ist es mit dem Modeln völlig vorbei inzwischen?
K: Ja sicher. Die Nummer mit meiner Vergangenheit ist etwas, worauf mich viele ansprechen. Ich habe damit seit fünf Jahren nichts mehr zu tun gehabt. Nur wenn Freunde wie Helen von Hochmuth mich bitten, dann mache ich das gelegentlich noch.
MUM: Wo wir gerade dabei sind – was war am Modeljob das Tollste, was das Erschreckendste?
K: Es gab im Prinzip mehr Erschreckendes als Positives. Es ist so: Die Menschen, die in diesem Geschäft das Sagen haben, benutzen dich, wie immer es ihnen passt. Das, was du in ihren Augen bist, ist nicht mehr als ein Stück Dreck. Ich habe das ganze zwei Jahre mitgemacht, und weil ich mich nicht benutzen lassen wollte und zudem nicht bereit war, mich für Jobs in den A**** f ***** zu lassen , war ich irgendwann nicht mehr wirklich erfolgreich. Zu dem Zeitpunkt habe ich dann aufgrund von Geldmangel bei einer Mailänder Prostituierten zur Untermiete gewohnt. Wir haben sehr sehr intensive Gespräche geführt, und sie war eine intelligente und sehr tiefgehenden Person, mit großen geistigen Fähigkeiten, die ich sehr gerne hatte.
MUM: Hat sich deine Bewunderung für Hermann Hesse auf deine Texte ausgewirkt? Liebst du bei ihm denn eher das faszinierende Gespaltenheit des “Steppenwolfs” oder die Schönheit des Wortes in “Siddhartha”?
K: “Siddhartha” fasziniert mich deutlich mehr, weil es sehr intensiv beschreibt, dass Ruhelosigkeit oft in Zusammenhang mit geistigem Potential steht, das immer auf der Suche sein, einen Weg gehen, der anders ist als der anderer. Aber auch und vor allem seine Gedichte finde ich phänomenal. “Ballade vom Klassiker”, das er anlässlich seiner Wahl in die Berliner Akademie geschrieben hat, ist eines meiner Lieblingsgedichte.
MUM: Zurück zu Ncor. Eure Musik ist sehr tanzbar und knackig produziert. Habt ihr hier Vorbilder, die euch geprägt haben?
K: Na wie ich schon erwähnte, es gibt viele musikalische Vorbilder und es bleibt nicht aus, dass man sich von dem Einen oder Anderen inspirieren lässt.
MUM: War es von Anfang an klar, dass ihr deutschprachige Musik machen wollt, oder gab es auch mal englische Versuche?
K: Es gab auch englische Ncor-Lieder. Als ich aber bei einem unserer vielen Konzerte am Anfang unserer Karriere mal den kompletten Text vergessen hatte und dann kompletten Unsinn gesungen habe, niemand es merkte, war irgendwann der Entschluss gefasst, es mit der deutschen Sprache zu versuchen. Zumal ist sie als Sangessprache immer noch sehr unterfrequentiert, und das wollten wir vor allem ändern.
MUM: Was ist euch am wichtigsten beim Erschaffen eines neuen Tracks, was wollt ihr musikalisch und textlich erreichen?
K: Was wir erreichen wollen, sind vor allem Menschherzen. Vor allem ist aber auch sehr wichtig, dass wir inhaltlich und musikalisch auf die ein oder andere Art und Weise etwas bewegen vielleicht, obwohl es wohl eher ein hehres Ziel sein dürfte, einen eigenen Stil kreieren.
MUM: Auf eurer Website kann man lesen, dass “Tiefenrausch” am 10.2. erschienen ist – euer Label hingegen spricht immer vom 24.2. – na ganz egal, wie sind die ersten Reaktionen von Presse und Fans?
K: Es gab da im Vorfeld wohl einige Verwirrungen, was das Release Date angeht, von daher ist wohl ein kleiner Fehler unterlaufen. Ja, die Reaktionen sind durchweg gut. Ein kleines Musikmagazin, das sehr traditionell und Neuem gegenüber nicht wirklich aufgeschlossen ist, hat sich negativ geäußert, aber im großen und ganzen sind die Reaktionen erstaunlich gut. Selbst die großen Magazine wie Orkus und Sonic Seducer haben uns sehr freundlich willkommen geheißen. Von den Fans bekommen wir immer mehr Rückenwind, weiter zu machen, und das freut uns extrem, weil wir solche Reaktionen auch niemals erwartet hätten.
MUM: Die Bilder im Booklet erinnern mich ans Schnorcheln in Ägypten letztes Jahr – also nicht die zwei mit den leicht bekleideten Mädels als Modewerbung, sondern die Fischlein. Warum heißt denn die Scheibe eigentlich “Tiefenrausch” und geht somit auch optisch unter Wasser?
K: Na ja, passt ja ganz gut zu uns. Der Tiefenrausch als Stickstoffvergiftung tritt beim Tauchen in großen Tiefen auf. Und die Moräne ist ein Wesen, das sich gerne in einer Höhle versteckt und dann hervorstößt, um sich ihr Opfer zu schnappen. Gefährlich aber doch wunderschön. Um zu tauchen, muss man vor allem Mut haben, das gewohnte Element, in dem man lebt, gegen ein anderes auszutauschen, in dem andere Regeln herrschen, als man sie gewohnt ist. Das ist bei uns ebenso. Man kann den Tiefenrausch erst erleben, wenn man mutig ist und sich darauf einlässt.
MUM: Mit wem würdet ihr gerne mal auf Tour gehen, wenn ihr es euch aussuchen könntet? Ich würde euch ja gerne mal im Gespann mit Mesh im Bündel sehen, aber eure Wunschbands sind sicher größeren Kalibers.
K: Mesh sind schon ganz okay. Es gibt da eigentlich keine Favoriten. Menschen, mit denen man sich versteht, mit denen man sich auf der Tour nicht in die Haare kriegt und die vor allem in der Lage sind, Fete zu machen, sind unsere Favoriten. Wir sind in den nächsten Monaten u.a. mit Nik Page und zwischenzeitlich wahrscheinlich mit Steril unterwegs. Nik ist ein unglaublich netter Kerl, habe ich mir sagen lassen, und die Jungs von Steril habe ich auf dem Birthquake kennengelernt, und wir freuen uns sehr die Rumtourerei.
MUM: Auf eurer Website gibt es Ncor-Comics. Wie seid ihr denn darauf gekommen?
K: Wir erleben sehr viele witzige Sachen, bei Konzerten und dem ganzen drum herum, die es auf jeden Fall wert sind, mitgeteilt zu werden. Leider haben wir in der letzten Zeit nicht ganz so viel Zeit gehabt, die letzten Tourerlebnisse in Comics zusammenzufassen.
MUM: Von wem würdet ihr euch gerne mal remixen lassen, und warum?
K: Junkie XL oder Chemical Brothers, weil wir Fan von ihrer Arbeitsweise und dem sind, was sie auf Platte gebannt haben.
MUM: Was war bislang der Höhepunkt eurer Karriere?
K: Es gab viele kleine Höhepunkte. Das Größte jedoch ist es wirklich, vor einer vollen Halle zu stehen und die Menschen mitmachen zu sehen, und nachher auf die Inhalte dessen, was wir machen ,angesprochen zu werden.
MUM: Welche Ziele habt ihr musikalisch, welche Träume?
K: Vor allem, einfach weiter machen zu dürfen. Unseren Weg weiter zu gehen und vor allem viel dazu zu lernen.
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MUM: Mucke und mehr
K: Kevin von Ncor