Madrugada
“Chimes At Midnight”
(CD, Warner Music, 2022)
Als die norwegischen Indie-Rocker von Madrugada 2007 an ihrem fünften Studioalbum arbeiteten, ahnten sie nicht, dass es das letzte für lange Zeit werden sollte. Dann verstarb Gründungsmitglied und Gitarrist Robert Burås völlig unerwartet, und obwohl Sivert Høyem (Gesang, Gitarre) und Frode Jacobsen (Bass) das Album 2008 noch selbstbetitelt veröffentlichten, verkündeten sie dann eine längere Auszeit, die auch das Ende der Formation hätte bedeuten können.
In dieser erschienen zwar 2010 und 2011 noch Neuauflagen ihrer ersten beiden, tollen Scheiben “Industrial Silence” (1999) und “The Nightly Disease” (2001) mit B-Seiten und unveröffentlichtem Material sowie 2010 das Doppelalbum “The Best Of Madrugada” – neue Aufnahmen aber gab es bis vor kurzem nicht zu hören.
2018 dann verkündeten Madrugada nicht nur, dass neben Sivert Høyem und Frode Jacobsen nun auch wieder der 2002 ausgestiegene Drummer Jon Lauvland Pettersen als drittes Gründungsmitglied zur Band zurück gekehrt sei, zur Feier des 20-jährigen Jubiläums von “Industrial Silence” wurde für 2019 eine ausgedehnte Comeback-Tournee angekündigt, die mit fast 100 gefeierten Konzerten ihr größte und erfolgreichste werden sollte. Sivert Høyem erinnert sich: “Es war, als sich ob das letzte Puzzleteil an seinem Platz eingefügt hätte. Ich hatte mich auf der Bühne noch nie so wohl gefühlt. Es war überhaupt kein Stress, ganz anders als früher, wo ich immer großen Stress empfunden habe.”
Das Trio gewann den Spaß am gemeinsamen Musizieren zurück und wollte das Momentum nutzen, so rasch wie möglich neue Songs zu erarbeiten und ins Studio zu gehen. So ging es im Dezember 2019 von der Bühne direkt zurück in den Proberaum. “Wir hatten einen engen Zeitplan”, berichtet Frode Jacobsen. “Wir buchten uns Ende Februar im Sunset Sound Studio in Los Angeles ein und hatten etwa anderthalb Monate Zeit, um das Material zu entwickeln und in Form zu bringen. Es lief wie am Schnürchen. Wir waren immer noch high vom Touren und nahmen diese Energie mit in die Aufnahmekabine.”
“Jeder von uns brachte Melodien und Ideen ein, was dem Kreativprozess sehr zuträglich war”, fügt Høyem hinzu. “Und dann schauten wir einfach, wohin es uns treibt. Wir hatten das ‘Industrial Silence’-Album noch in den Venen, nachdem wir es auf der Tournee live gespielt hatten, und ich hatte das Gefühl, dass es eine direkte Verbindung zu unseren prägenden Jahren gab. Egal, was wir anfassten – es klang am Ende nach Madrugada.” Im eigenen Proberaum/Studio in Oslo und einem anderen Studio 45 Minuten außerhalb der Stadt wurde an Songs gefeilt, gefolgt von einer weiteren Woche des Feinschliffs in Berlin.
Auf den 59 Minuten des Longplayers beglücken uns die Norweger mit zwölf Songs in bester Madrugada-Manier. Als Opener fungiert das tolle, intensive “Nobody Loves You Like I Do”, das als erster Vorbote ja bereits im September 2021 voraus geschickt wurde. Mit leicht düsterer Melancholie betört uns Sivert Høyem, wenn er in der getragenen Strophe eindringlich “You give yourself away” singt, um dann im rockigeren Refrain energetisch zu versichern, dass er mehr Liebe bietet als andere.
Mit der ersten Single führten uns die Jungs auch gleich in ihr Album-begleitendes “Vesterålen Project” ein, für das sie in ihrer Heimatprovinz Nordland im Norden Norwegens neun Musikvideos aufnahmen. Sie reisten auf die Vesterålen, um an neun verschiedenen Orten zu drehen – sechs Videos davon zu neuen Songs des Albums, drei zu ausgewählten Klassikern aus dem Backkatalog der Band wie “Majesty” aus dem 2002er-Album “Grit”.
In der Summe sollte ein Dokumentar-/Konzertfilm entstehen, so die Idee der Band und des Regisseurs Eivind Holmboe. Was natürlich bedeutete: Madrugada mussten die Musik live spielen. Ganz egal, wo sie sich gerade befanden, sollte die Band ihre Instrumente einstöpseln und spielen. Bei Wind und Wetter (was im August auf den Vesterålen durchaus ein Faktor sein kann). Sie performten einen Song in einem Silo, das früher zur Herstellung und Lagerung von Heringsöl verwendet wurde. Sie sangen auf dem Gipfel des Berges Storheia, 565 Meter über dem Meeresspiegel. Sie standen vor einem brennenden Haus und am Strand von Andenes, als gerade die Flut einsetzte.
Mit “Running From The Love Of Your Life” folgt ein geradlinig konstant kraftvollerer Midtempo-Song, bevor mit dem getrageneren, von ergänzendem weiblichem Hintergrundgesang bereicherten “Help Yourself To Me” wieder mehr auf Atmosphäre gesetzt wird, was dann auch gleich wieder mehr zu berühren weiß. Hierin sind Madrugada absolute Großmeister, was auch das folgende “Stabat Mater” untermauert, das mal melancholisch dahin fließt, mal Gitarre aufheulen lässt, mal mit sanften Chorälen im Refrain Pathos kreiert, der zum Glück noch nicht die Schwelle zum Kitsch überschreitet, auch wenn er sich ihr annähert.
Mit “Slowly Turns The Wheel” geht es dann wieder energetischer zu, bevor “Imagination” als einziges Stück zu viel dahin plätschert, ohne Aufregendes zu bieten. Dies müssen bei Madrugada ja absolut keine raueren Momente sein, der zweite Album-Vorbote, das gute “Dreams At Midnight”, weiß mit seinem griffigen Midtempo-Rock aber einige aufzuweisen.
“Call My Name” schraubt die Progressivität wieder etwas zurück, bevor mit “Empire Blues” mal etwas ganz anderes erklingt, nämlich eine schwungvollere, jazzig angehauchte Blues-Folk-Rock-Nummer – die aber weniger zu packen weiß als die intensiveren Nummern. Auch mit “You Promised To Wait For Me” kehren Madrugada noch nicht wieder zurück zur einnehmenden Indie-Melancholie, besitzt doch auch dieses etwas flotter angerichtete, mit Streicherklängen durchsetzte Stück deutlichen Folk-Einfluss.
Zum Abschluss gibt es dann aber noch einmal zwei der Stücke, für die man die Band liebt – und die auch beide bereits vorab veröffentlicht wurden. “The World Could Be Falling Down” gehört zu den 30% des Albums, die nicht komplett neu erarbeitet wurden, haben die Jungs doch auch einige ältere Songs aus der Vergessenheit gerettet. Dieses schöne Stück stammt aus der Zeit ihres ersten Albums, und auch das erwähnte “Slowly Turns The Wheel” ist hier zu nennen, dessen Ursprung irgendwo zwischen dem dritten und dem vierten Album liegt.
Madrugada haben sich also trotz aller Spontaneität der Entscheidung für neue Aufnahmen viele Gedanken über die Zusammenstellung der Songs gemacht. “Der Prozess unterschied sich grundlegend von den Aufnahmen meines letzten Albums mit der Band [‘The Nightly Disease’, 2001]”, berichtet Lauvland Pettersen. “Damals war es ein klassischer Fall von ‘Zweites-Album-Syndrom’ – wir hatten nicht viel vorbereitet, sondern gingen einfach rein und versuchten, das Beste aus der gegebenen Zeit herausholen. Diesmal wurde das Material im Vorfeld nicht nur geschrieben, sondern auch sorgfältig arrangiert.”
Abschließend untermauert das ebenfalls sehr schöne, getragene “Ecstasy” noch einmal, wie sehr man sich freuen kann, dass Madrugada wieder zurück sind. Auch wenn das Album nicht in jeder Pore zu begeistern weiß, bietet es doch erneut viele außergewöhnlich gute, atmosphärische Indie-Rock-Stücke.
In Kürze sind Madrugada live bei uns zu sehen. Hier die Daten – Tickets gibt es z.B. hier bei Eventim (Partnerlink):
25.03.2022 Köln – Victoria Carlswerk
26.03.2022 Wiesbaden -Schlachthof
27.03.2022 Stuttgart – Im Wizemann
29.03.2022 München – Muffathalle
01.04.2022 Berlin – Tempodrom
02.04.2022 Dresden – Schlachthof
04.04.2022 Hamburg – Markthalle
madrugada.no
facebook.com/madrugada
Bewertung: 8 von 10 Punkten
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