Placebo
“Never Let Me Go”
(CD, SO Recordings, 2022)
Wenn sich Placebo mit ihrem achten Album “Never Let Me Go” zurück melden, dann muss man ein fettes endlich einfügen, schließlich ist es geschlagene neun Jahre her, als ihr letztes Studioalbum “Loud Like Love” erschien – 2015 folgte dann nur noch ein “MTV Unplugged”-Mitschnitt, 2016 die “A Place For Us To Dream – 20 Years Of Placebo”-Retrospektive.
Insgesamt sind es inzwischen also schon mehr als 25 Jahre, in denen die britische Band ihre Fans mit feinster Alternative-Rockmusik verwöhnt, und mit dieser wissen der in Belgien geborene Sänger/Gitarrist Brian Molko und der schwedische Bassist Stefan Olsdal auch diesmal aufzuwarten.
Auch wenn die Jungs auf der der 2016er-Greatest-Hits-Scheibe folgenden Tour in gewaltigen Arenen und auf großen Open-Air-Bühnen gefeiert wurden, fühlten sie sich damals irgendwie nicht so richtig wohl. “Ich fand, dass das alles ein bisschen zu kommerziell wurde, in dieser Zeit – der Zeit der Retrospektive”, erklärt Brian. “Die ganze Sache war eher kommerziell als künstlerisch und wir haben uns dagegen gewehrt. Ich dachte mir: ‘Scheiß drauf, die nächste Platte wird vom Schmerz der Welt handeln!’ Der stumme Schrei, der überall zu hören ist – das ist es, was mich interessiert. Nicht dieses masturbatorische, selbstbeweihräuchernde Zwei-Jahres-Ding von wegen ‘Sind wir nicht toll?'”
Stefan fügt hinzu: “Es war eine zermürbende Fünf-Jahres-Tour, die vom letzten Album bis zur Greatest-Hits-Tour ging. Es ging irgendwie immer weiter und es saugte buchstäblich das Leben aus mir heraus. Ich hatte nicht mehr viel Begeisterung für die Band übrig, ich glaube, ich war einfach ausgelaugt. Der Gedanke, dasselbe wieder zu tun, erfüllte mich mit Grauen.”
Mit den 13 Stücken auf den 58 Minuten des neuen Albums blicken Placebo unter dem Eindruck der Pandemie auf global kritische Themen wie Intoleranz, Umweltzerstörung, zur Normalität gewordene Unehrlichkeit und ausufernden Technik- und Social-Media-Wahn. Der unter Schlafstörungen leidende Frontmann hat die Pandemie genutzt, die Texte des Albums noch einmal zu überarbeiten, zu verbessern, und so schrieb er die Lyrics für drei Songs komplett neu. Eigentlich sollte der Longplayer nämlich Mitte 2020 erscheinen, dann aber war man im Lockdown und viel Zeit da. “Ich wollte die Verwirrung darüber einfangen, wie es ist, in der heutigen Zeit zu leben”, begründet er, “das Gefühl, verloren zu sein, immer in einem Labyrinth zu wandeln, ständig von Informationen und Meinungen überwältigt zu werden.”
Im September 2021 meldeten sich Placebo mit dem treibenden Midtempo-Song “Beautiful James” als erster neuer Single zurück, mit der sie auf die in Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien zur Gewohnheit gewordenen Lügen der Welt anspielten: “Everybody lies one hundred times a day. The silence in your hard eyes is far too rare to give away, and it’s exactly why I stay. Beautiful James, I don’t wanna wakе you, though I may have to.”
Brian erklärt: “Wenn der Song dazu dient, die Spießer und Verklemmten zu irritieren, dann soll es mir recht sein. Aber es bleibt für mich unerlässlich, dass jeder Hörer seine eigene persönliche Geschichte darin entdeckt – ich will euch wirklich nicht vorschreiben, was ihr fühlen sollt.” Für das Stück hatte die Band ihren üblichen kreativen Prozess auf den Kopf gestellt, indem sie sich ihrer gemeinsamen Arbeit auf eine neue Art und Weise näherten, die zunächst mit einem Bild und einem Songtitel begann, der ein bestimmtes Gefühl hervorrief – lange bevor die Musik geschrieben wurde.
Im November folgte das getragen pulsierend düstere “Surrounded By Spies” über zunehmende Beschneidung von persönlichen Freiheiten, die man nicht einmal immer merkt. Molko erläutert: “Ich begann den Text zu schreiben, als ich herausfand, dass meine Nachbarn mich im Auftrag von Dritten mit einer fragwürdigen Agenda ausspionierten. Dann begann ich, über die zahllosen Möglichkeiten nachzudenken, wie unsere Privatsphäre ausgehöhlt und gestohlen wurde seit der Einführung weltweiter Überwachungskameras, die jetzt rassistische Gesichtserkennungstechnologien einsetzen; den Aufstieg des Internets und des Mobiltelefons, der praktisch jeden Nutzer in einen Paparazzo und Zuschauer seines eigenen Lebens verwandelt hat, und wie wir fast alle persönliche Informationen an riesige multinationale Konzerne weitergeben, deren einzige Absicht darin besteht, uns auszubeuten. Ich habe die Cutup-Technik verwendet, die von William S. Burroughs erfunden wurde und die David Bowie in seinen Songs populär machte. Es ist eine wahre Geschichte, die durch die Linse der Paranoia, der völligen Abscheu vor den Werten der modernen Gesellschaft und der Vergötterung des Überwachungskapitalismus erzählt wird. Der Erzähler ist am Ende seiner Kräfte, hoffnungslos und verängstigt, im völligen Widerspruch zu unserem neu entdeckten Fortschritt und dem Gott des Geldes.”
Mit dem im Midtempo daher kommenden, in der Strophe gemütlich und im Refrain rockiger angelegten “Try Better Next Time” gab es im Januar 2022 einen weiteren aufrüttelnden Vorboten, handelt es sich doch um eine Hymne auf das Ende der Welt, wie wir sie kennen, aber gespickt mit freudiger Erwartung, was als Nächstes kommen könnte, auch ohne die Menschheit. Brian: “Es ist nicht das Ende der Welt, sondern nur das Ende der Menschheit, ein Unterschied, den wir in unserer überzogenen Hybris nicht erkennen können. Mutter Natur ist unser extrem überdrüssig geworden. Try Better Next Time.”
Mit “Happy Birthday In The Sky” folgte Anfang März dann noch die vierte und letzte Vorab-Single, und mit dem tollen Stück über Verlust und die Mechanismen, die wir nutzen, um damit fertig zu werden, wurde es tief traurig. Molko kommentiert: “‘Happy Birthday In The Sky’ ist für mich einer der herzzerreißenden Momente auf dem Album. ‘Happy Birthday In The Sky’ ist eine Phrase, die ich schon seit geraumer Zeit verwende. Wenn ich Leuten, die nicht mehr bei uns sind, zum Geburtstag gratuliere, vermittelt das die Art von Herzschmerz, die wir (als Band), glaube ich, sehr, sehr gut vermitteln können. Das Gefühl des Verlustes, das Gefühl der Verzweiflung. Es ist, als ob ein Teil deines Körpers und deiner Seele auf ungerechte Weise aus dir herausgerissen wurde. Und man sehnt sich und sehnt sich. Ich glaube, dass das unmittelbar und emotional so intensiv ist, dass es dem Hörer wirklich etwas sehr Starkes vermittelt. Und das ist im Grunde alles, was mich interessiert. Zu welchem Preis? Wen kümmert das! Solange der Song die Leute wirklich bewegt, ist es mir egal, welche Opfer man bringen muss, um das Ziel zu erreichen. Es ist gar nicht so schlecht, diese Emotionen zu leben – man ist sehr, sehr lebendig und im Moment, während man das tut.”
So abwechslungsreich schon die Singles waren, so ist auch der Rest der Scheibe. Mit dem bedrohlich voran kriechenden “Forever Chemicals” geht es stark los, und klanglich sehr spannend, schon im Intro. “Ich hatte diese Drum-Machine auf meinem iPad”, verrät Molko, “und ich programmierte einen Beat ein, aber dann schaute ich weiter durch das Menü und entdeckte, dass man diese Drum-Machine auf eine ganze Reihe von Orchesterinstrumenten legen konnte. Also legte ich den Drumbeat auf eine Harfe, und dann verzerrte ich ihn und legte etwas Hall drauf – Bäm! Das ist also ein verzerrter Harfen-Loop, der als programmierter Drumbeat begann. Ich schätze, das war ein Wegweiser dafür, wie wir diese Platte machen wollten.”
Mit “Hugz” inkl. der aus der TV-Serie “Doctor Who” entliehenen Textzeile “A hug is just another way of hiding your face” und dem knarzigen “Twin Demons” gibt es gut progressiv abrockende Nummern, mit dem von Streichern bereicherten “The Prodigal” und “Chemtrails” weitere Midtempo-Stücke, und das mit feinem Piano aufwartende “This Is What You Wanted” bleibt lange ruhig, ist aber alles andere als eine verliebte Ballade: “Hey, hey hey, this is what you wanted, this is why you came. This is what you asked for, yes, I heard you beg, and you came, and you broke it, threw it out of the room, flushed it, down the toilet, even though it was your precious, the last thing to call your own.”
Auch das folgende “Went Missing” ist ruhig angelegt und fleht all die geheimen Zerstörer diese Welt an, einen in Ruhe zu lassen, während das hypnotisch ins Ohr kriechende “Fix Yourself” einige Kritik andeutet. Besonders stolz ist Brian hierbei auf die Zeile “I am bored of your Caucasian Jesus” als kunstvolle, seitwärts gerichtete Rock’n’Roll-Bezugnahme auf die Black-Lives-Matter-Bewegung. An anderer Stelle wettert der Track gegen die Flut von Online-Anzeigen und Social-Media-Konversationen, die uns vorschreiben, wie wir zu denken und zu leben haben. Jeder sollte an sich arbeiten – “go fix yourself, instead of someone else.”
Während Molko selbst es ablehnt, zu direkt zu sein, berichtet Olsdal: “Brian hat 300 verschiedene Highways in seinem Kopf und auf allen fährt er mit einer Million Meilen pro Stunde. In seinen Texten steckt diesmal so viel, sie führen an so viele verschiedene Orte – einige sind sehr düster, aber es gibt auch Liebe und Hoffnung darin. Ich sehe viel von seiner Wahrheit, von unserer Wahrheit.”
“Sad White Reggae” bietet eine treibende, packende Fusion aus Elektroklängen und Rock. “Die Platte ist sehr synthi”, erklärt Brian. “Gegen Ende des Jahres 2019 hatte ich mir selbst die Aufgabe gestellt, in jedem Song der Platte einen Synthesizer einzusetzen. Ich hatte Bock darauf, dann hatte Steph Bock darauf und schließlich hatte auch unser Produzent Adam Noble Bock darauf. Jetzt sind auf jedem Song vier oder fünf Synthies zu hören und es ist fast so, als ob die verzerrten Gitarren und die Vintage-Synthesizer gleichwichtig sind und es gibt dieses Drängen und Ziehen zwischen ihnen. Betrachtet man die Melodie, so unterstützen die Gitarren oft nur die Hauptmelodie, die vom Synthesizer gespielt wird.”
“Never Let Me Go” ist ein abwechslungsreiches und weiteres gutes Album von Placebo, das zwar viele kritische und dunkle Momente aufbietet, in seinen stets spannenden Stücken aber auch einiges an Hoffnung versteckt.
Im Oktober und November 2022 sind die in ihren Konzerten immer tollen Placebo endlich wieder live bei uns zu erleben. Hier die Daten – Tickets gibt es z.B. hier bei Eventim (Partnerlink).
01.10.2022 Frankfurt, Festhalle
04.10.2022 Stuttgart, Schleyerhalle
06.10.2022 Berlin, Mercedes Benz Arena
19.10.2022 Leipzig, Quarterback Immobilien Arena
22.10.2022 Hamburg, Barclaycard Arena
26.10.2022 München, Olympiahalle
29.10.2022 CH-Zürich, Samsung Hall
02.11.2022 A-Wien, Stadthalle
07.11.2022 Köln, Lanxess Arena
www.placeboworld.co.uk
facebook.com/officialplacebo
Bewertung: 8 von 10 Punkten
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