Simon Goff & Katie Melua
“Aerial Objects”
(CD, Modern Recordings, 2022)
Dass uns die georgisch-britische Singer/Songwriterin Katie Melua nicht nur ihre tatsächlich immer wieder sehr wundervollen, von ihrer tollen, warmen Stimme und schönen Melodien geprägten Songs beschert, sondern auch mal etwas abseits des Liedermacher-Pops ausprobiert, das wissen wir spätestens seit ihren Kollaborationen mit dem Gori Women’s Choir aus ihrem Heimatland Georgien.
Diese Kollaboration für das Album “In Winter” bedeutete für die Sympathin 2016 den Start in eine neue Zeit nach der Loslösung von ihrem langjährigen Mit-Komponisten und Produzenten Mike Batt. Zum Winter 2017 wurde die CD in einer Special Edition noch einmal neu veröffentlicht, mit einem zusätzlichen Track und einer lohnenswerte Bonus-CD mit 70 Minuten Livemitschnitt. Auf neue Songs von Katie mussten die Fans dann noch länger warten, blickte Künstlerin doch im Oktober 2018 mit ihrer “Ultimate Collection” (lies unsere Rezension hier) erst einmal auf die bisherige Karriere zurück.
Ende 2019 erschien mit “Live in Concert” (lies unsere Rezension hier) ein Mitschnitt ihrer Tour aus dem Herbst/Winter 2018/19, bei der sie sowohl Stücke der Best-Of-Scheibe als auch von “In Winter” spielte, schließlich hatte sie den Gori Women’s Choir als 23-köpfiges Vokalensemble mit sich auf Reisen genommen (lies unseren Konzertbericht hier).
Im Oktober 2020 dann war es endlich soweit und mit “Album No. 8” (lies unsere Rezension hier) bot Katie sieben Jahre nach “Ketevan”, mit dem sie wie schon mit ihren fünf Alben davor die Top Ten der britischen wie auch deutschen Charts erreichte, ein neues Werk mit nicht auf den Winter festgelegten, neuen Stücken. Auf 38 Minuten präsentierte sie zehn neue Stücke, die wie immer bei der wundervollen Singer/Songwriterin sehr melodisch und schön daher kamen, klanglich zudem durch klassische Ergänzungen des Georgian Philharmonic Orchestra einiges zu bieten hatten – und mit Platz 5 bei uns sowie Rang 7 in Großbritannien blieb der Erfolg auch diesmal nicht aus. Im Herbst 2021 folgte auf “Acoustic Album No. 8” (lies unsere Rezension hier) eine akustische Neueinspielung der Scheibe – bei einigen Stücken bereichert durch Violinenspiel von Simon Goff.
Nachdem sich Katie im Frühjahr des Jahres das zweite Album “Vale” des in Berlin lebenden Violinisten, Komponisten und Produzenten zugelegt hatte, war sie begeistert: “Ich schlenderte so durch die Straßen von London, und diese Musik umschloss mich wirklich komplett. Es fühlte sich so an, als ob ich mich im Inneren der Instrumente befinden würde … vor allem bei dieser wunderschönen Geige hatte ich dieses Gefühl. Und zugleich hatte das Album etwas fast schon Animalisches.”
Nach der Zusammenarbeit für “Acoustic Album No. 8” war schnell klar, dass die Kollaboration mit Goff fortgesetzt werden sollte mit ganz eigenen Stücken. Katie schwärmt weiter: “Diese Session im letzten August war echt unglaublich. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so im Studio arbeitet. Der komponiert, indem er auf seinem Instrument zu improvisieren beginnt – und dann alle möglichen Loop-Pedale und Keyboards anwirft. Man ist live dabei, wie nach und nach ein immer dichteres Geflecht entsteht.”
Sechs Stücke wurden erarbeitet, die nun auf den 32 Minuten des gemeinsamen Albums “Aerial Objects” zu hören sind. Der Opener “Tbilisi Airport” war der erste Song, den Goff und Melua gemeinsam schrieben, und das Treiben am Flughafen der Hauptstadt von Katies Heimatland wird in seinem Verlauf immer reger, ohne sich aber in Aufgeregtheit zu verlieren – wohl auch dank Katies warmer Stimme dominiert die Schönheit.
Mit “It Happened” folgt ein tolles, immer mehr an Intensität gewinnendes Stück, in dem einige Arbeit steckt. Ausgehend von ein paar improvisierte Klavierspuren Goffs fügten die beiden eine Mischung aus echten und programmierten Beats hinzu, Violine und sphärische elektronische Klänge, getrieben von einer futuristischen Vision. In Meluas Songtext finden sich die Namen Hermann Matthies und Werner Düttmann wieder, zweier Architekten, die als wichtige Weichensteller für die spätere Bauhaus-Bewegung gelten. Und als der Textentwurf stand, bat Katie die Dichterin und Schriftstellerin Fiona Sampson, doch noch mal einen unvoreingenommenen Blick drauf zu werfen. Sampson legte der Songwriterin daraufhin nahe, alle Wörter aus dem Teil zu streichen, die einem klassischen Refrain am ähnlichsten waren. “Und nachdem ich diesen Part gestrichen hatte, passte plötzlich alles perfekt zusammen”, so Melua. “Damit hatte der ganze Song genügend Raum zum Atmen.” Noch etwas rhythmusgetriebener mit einigen Stakkatos zeigt sich dann das folgende “Hotel Stamba”, trotz ruhigerer Zwischenpassage.
Ein sehr schönes Stück ist die neueste Auskopplung “Textures Of Memories”, eine getragen dahinfließende Nummer, basierend auf der von beiden geteilten Faszination für New York City. Melua bezieht sich im Text auf ihre Tagebücher und umkreist ein Gefühl, das sie “survivors’ guilt” nennt – die Schuldgefühle einer Überlebenden. Andererseits wird das Stücke aber auch vom Glück geprägt, eine neue Liebe gefunden zu haben. Sie vergleicht diese Liebe mit der Unbeständigkeit der Lichtstrahlen, die sich ihren Weg durch die Skyline bahnen – und genauso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind.
“Also für mich ist dieser Song einfach New York – und New York ist dieser Song”, erklärt der Wahlberliner Goff. Und obwohl es sicherlich ein Liebeslied ist, “war mir trotzdem wichtig, dass es noch so viel mehr ist, als nur das. Es ging mir um dieses Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten. New York war der erste Ort, an den ich ging nach dem College-Abschluss. Ich besuchte die Wohnung von John Cage, schaute mir das Dream House von La Monte Young an, ich traf Phill Niblock. Ich tauchte damals richtig ein in die Downtown-Kunstszene von New York. Dieser Song bedeutet mir wirklich wahninnig viel, weil ich glaube, wir haben es geschafft, die gesamte DNA all dieser Erfahrungen und Erlebnisse in dieses Stück einfließen zu lassen.”
Für den Titelsong klammerte Melua jegliche Gefühle des Frisch-Verliebtseins für den Moment aus und fragte sich stattdessen, warum sie und zahllose Songwriter-KollegInnen den Blick quasi automatisch in den Himmel richten, wenn es darum geht, die eigenen Emotionen in Worte zu fassen. “Überall findet man das, wenn man es erst mal realisiert hat”, erzählt sie lachend. “Man wird das nie wieder los – und man hört es echt andauernd: von ‘Over The Rainbow’ bis ‘Starman’, von ‘Autumn Leaves’ bis ‘Zoom’.” Katie lässt uns hinauf schweben in die Höhe und zählt entspannt auf, was es dort oben alles zu bewundern gibt: “Clouds… kites… birds… rainbows… Starman… trees… leaves… fireworks” – ein weiterer schöner Song, der an Kraft gewinnt.
Abschließend präsentiert sich das fast sieben Minuten lange “Millions Of Things” elegisch und kunstvoll. Melua beschreibt Kindheitserinnerungen an Wahrnehmung der umwerfenden Natur als 8-Jährige und thematisiert auch das Doggerland – jenes versunkene Stück Land in der heutigen Nordsee, das einst Großbritannien mit dem Rest von Europa verband. Auch dieses Symbol wählt sie natürlich nicht ohne Grund: “In einem Paralleluniversum, in dem das Doggerland nicht im Meer verschwunden ist, hätten wir ein komplett anderes Bild davon, wie wir als Briten und Europa zueinander stehen”, ist sie sich sicher. “Und somit hätten auch die politischen Entscheidungen der letzten sechs, sieben Jahre natürlich vollkommen anders ausgesehen.”
Ein durchaus mit Anspruch daher kommendes, sehr interessantes Album, das abseits vom oft schlichter gehaltenen Pop-Kosmos balanciert, dank Katies Stimme aber immer auch geerdet bleibt, was sehr gut Goffs spannenden Klangkosmen passt.
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Bewertung: 8 von 10 Punkten
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